Neudefinition

Lesedauer: ca. 6 Minuten
In seiner Weihnachtsbotschaft stellte Bundespräsident Frank Walter Steinmeier kürzlich fest: „Die Pandemie verändert uns […] bis in unsere alltägliche Sprache hinein. Da sind nicht nur neue Begriffe hinzugekommen, von Inzidenz bis 2G Plus. Auch unsere alten, kostbaren Worte erhalten ein neues, dringliches Gewicht. Was zum Beispiel bedeutet Vertrauen? Natürlich nicht blindes Vertrauen. Aber heißt Vertrauen nicht wohlmöglich auch, dass ich mich auf kompetenten Rat verlasse, selbst wenn meine eigenen Zweifel nicht gänzlich besiegt sind? Oder Freiheit. Ist Freiheit der laute Protest gegen jede Vorschrift oder bedeutet Freiheit manchmal nicht auch, sich selbst einzuschränken, um die Freiheit anderer zu schützen? Was bedeutet Verantwortung? Sagen wir einfach, das muss jeder für sich selbst entscheiden oder betrifft meine Entscheidung nicht in Wahrheit viele andere mit? Freiheit, Vertrauen, Verantwortung – darüber, was das bedeutet, werden wir uns verständigen müssen.“
Im Angesicht der Corona-Krise scheinen wir die Grundpfeiler gesellschaftlichen Miteinanders neu definieren zu müssen. Es bedarf einer Generalüberholung, einem echten Neudenken zentraler Begriffe und Werte.
Auch der Transformationsberater Martin Permantier vertritt den Standpunkt, dass große Veränderungen sich nur bewältigen lassen, wenn wir unsere Haltung und Werte an den aktuellen Kontext anpassen und neu definieren. Entsprechend schreibt er: „Wir Menschen müssen unser Bewusstsein weiterentwickeln, um in der Transformation zu bestehen.“ (Permantier, 2019)
Im Angesicht der Corona-Krise scheinen wir die Grundpfeiler gesellschaftlichen Miteinanders neu definieren zu müssen. Es bedarf einer Generalüberholung, einem echten Neudenken zentraler Begriffe und Werte.
In dem ersten Artikel dieses Jahres wollen wir diesen Gedanken einmal aufgreifen und zentrale Begriffe der Arbeitswelt vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und beruflichen Transformation hinterfragen. Beispielhaft wollen wir zeigen, wie eine Diskussion über eine Neudefinition im Bereich der Arbeit aussehen könnte. Dabei wollen wir hier nicht die modernen Schlagworte wie „New Work“, „Selbstorganisation“ oder „Agilität“ behandeln. Viel mehr wollen wir auf die alten, seit jeher mit Arbeit verbundenen Begriffe schauen. Wir wollen sehen, ob auch diese ein neues, dringliches Gewicht erhalten haben, über das wir uns verständigen müssen, um zu einem neuen, gemeinsamen Selbstverständnis über Arbeit zu gelangen. Konkret wollen wir fragen: Was bedeutet „Zusammenarbeit“? Was bedeutet „Führung“? Und was bedeutet „gute Arbeit“? Jetzt. Nach zwei Jahren Pandemie.
Konkret wollen wir fragen: Was bedeutet „Zusammenarbeit“? Was bedeutet „Führung“? Und was bedeutet „gute Arbeit“? Jetzt. Nach zwei Jahren Pandemie.
Bedeutet Zusammenarbeit, dass wir jederzeit in ständigem Kontakt und Austausch miteinander sind? Brauchen wir eine permanente face-to-face Begegnung im Büro oder eine ständige Vernetzung im virtuellen Raum via Kollaborationstools? Lässt sich die Qualität unserer Zusammenarbeit also an der Anzahl an gemeinsamen Besprechungen und der Länge unserer Chatverläufe ablesen? Oder haben wir in den langen Wochen im Homeoffice erfahren, wie wohltuend es manchmal sein kann, Zeit zur Konzentration und Kontemplation, zur Fokussierung und für Deep Work zu haben, um überhaupt einen nennenswerten inhaltlichen Beitrag zur Zusammenarbeit leisten zu können?
Heißt Zusammenarbeit in einer hochkomplexen Welt, dass wir alle wie die Rädchen in einem Uhrwerk funktionieren? Jede:r also als Spezialist:in mit einer (kleinen) Teilaufgabe betraut ist und den geforderten Beitrag zuverlässig leistet, ohne jedoch das Gesamtergebnis zu berücksichtigen? Oder erfordert Zusammenarbeit in komplexen Zusammenhängen, dass sich jede:r von uns für das große Ganze verantwortlich fühlt und das Projekt in Gänze verfolgt?
Heißt Zusammenarbeit, dass Wissen und Kompetenzen als Währung gehandelt werden? Dass aufgewogen wird, wer wie viel in das Team einbringt? Oder sind wir in Zeiten großer Unsicherheiten mehr und mehr darauf angewiesen, Kompetenzen und Wissen großzügig mit dem Team zu teilen, um gemeinsam voneinander zu lernen?

Was bedeutet für uns Zusammenarbeit?

Was bedeutet für uns Führung?
Lasst uns auch den Begriff Führung hinterfragen: Was bedeutet Führung für uns jetzt und für die Zukunft? Bedeutet Führung, dass eine Person die Richtung allein vorgibt und sagt, wo es lang geht? Gilt das auch, wenn Führung pandemiebedingt auf Distanz stattfindet oder heißt Führung in diesem Zusammenhang, Mitarbeitenden Vertrauen zu schenken und auf Selbstorganisation zu setzen? Bedeutet Führung, auf alle Fragen eine Antwort zu haben oder kann Führung in Zeiten von Volatilität und Ambiguität auch bedeuten, eigene Schwächen und Unsicherheiten offen zu kommunizieren?
Heißt Führung sich zu profilieren, um aufzusteigen auf einer Karriereleiter? Ist die Führungsaufgabe als Mittel und zum Zweck zu verstehen, um das eigene Weiterkommen zu sichern? Oder bedeutet Führung in Zeiten von Unsicherheiten – wie die der Pandemie – die Übernahme einer großen Verantwortung für andere und die Risikobereitschaft, ein mögliches Scheitern in Kauf zu nehmen?
Bedeutet Führung, Aufgaben analytisch zu zerlegen, diese an die nachgeordneten Hierarchiestufen zu delegieren, erbrachte Ergebnisse zu bewerten und Leistungsbeurteilungen zu schreiben? Oder meint Führung in einer komplexen Welt, ein Team intensiv zu begleiten, im Austausch zu sein und als Coach zu agieren?
Und welche Vorstellungen haben wir von „guter Arbeit“? Meint „gute Arbeit“, die eigene berufliche Laufbahn durch wohlstrukturierte Trainee- und Karriereprogramme planbar und vorhersehbar zu machen, die Aussicht auf Aufstiegsmöglichkeiten und Gehaltssteigerungen zu haben? Oder braucht „gute Arbeit“ auch Sinnhaftigkeit, Zugehörigkeit zu einer guten Sache und Identifikation mit dem, wofür das Unternehmen steht?
Heißt „gute Arbeit“, einem soliden, vernünftigen Job nachzugehen, der nicht aus der Mode kommen wird, mit dem sich Geld verdienen lässt? Die Gewissheit, dass – wenn man nicht das Tafelsilber klaut – einen sicheren Job bis zur Rente haben wird? Oder gehört für uns nach unzähligen einsamen Stunden im Lockdown zu „guter Arbeit“ auch dazu, dass wir das Gefühl von Verbundenheit erlangen und uns als Teil eines Teams erleben, das aus Leuten besteht, mit denen wir uns gerne umgeben?
Bedeutet „gute Arbeit“, sich einem Karriereziel zu verschreiben und die eigene Wichtigkeit durch eine 60-Stunden-Woche zu belegen? Oder hat die lange Zeit im Homeoffice unsere Ansprüche verändert und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben wichtiger werden lassen? Bedeutet „gute Arbeit“ nach zwei Jahren Pandemie vielleicht mehr und mehr, die unterschiedlichen Lebensbereiche in Einklang halten zu können, Gesundheit nicht auf später zu verschieben und einen Arbeitsrhythmus zu finden, der dauerhaft durchhaltbar ist?

Was bedeutet für uns „gute Arbeit“?
So oder so ähnlich könnte eine Diskussion um die Neudefinition der Begriffe Zusammenarbeit, Führung und „guter Arbeit“ geführt werden. Aber weder der Bundespräsident in der Weihnachtsansprache noch wir in diesem Artikel können die Begriffe für die Zukunft festschreiben. Die neue, aktuelle Bedeutung – der gemeinsame Wertekanon für die Zukunft – ergibt sich erst durch die Verständigung innerhalb der Gesellschaft, der Unternehmen und Organisationen. Transformation und Neudefinition entstehen im gemeinsamen Austausch.
Die neue, aktuelle Bedeutung – der gemeinsame Wertekanon für die Zukunft – ergibt sich erst durch die Verständigung innerhalb der Gesellschaft, der Unternehmen und Organisationen. Transformation und Neudefinition entstehen im gemeinsamen Austausch.
Fassen wir zusammen, was wir aus diesen Überlegungen ableiten können:
- Die Pandemie verändert uns und unsere Vorstellungen. Zentrale Begriffe des gesellschaftlichen und beruflichen Miteinanders müssen überprüft und für den aktuellen Kontext neu definiert werden. Wir alle sind daher aufgefordert, uns Gedanken zu machen über den Wertekanon, auf dem unser zukünftiges Miteinander fußen soll. Wir müssen Position beziehen und in den Austausch mit anderen treten, um ein neues gemeinsames Selbstverständnis zu schaffen. Gestalter:innen der Zukunft verstehen sich als aktiven Teil dieses Prozesses.
- Es gibt bei diesem Prozess keine einfachen Antworten. Das neue Selbstverständnis liegt nicht auf der Hand und eine Definition ist nicht immer eindeutig. Wir werden miteinander ringen müssen um Positionen und Werte, wir müssen dabei Widersprüche aushalten und die Diskrepanz ertragen zwischen dem, was wir uns wünschen und dem, was im Austausch mit anderen durchsetzbar ist. Es geht für alle um viel. Alte Wertvorstellungen loszulassen und zu akzeptieren, dass ein veränderter Kontext andere Vorstellungen nötig macht, geht tief an die Wurzeln unseres über Jahrzehnte aufgebauten Selbstverständnisses über uns und die Welt.
- Verständlich ist die Furcht vor Spaltung. Daher müssen wir empathisch sein, uns gegenseitig gut zuhören, Argumente aufnehmen und mit unseren eigenen abgleichen. Das ist ein langer, vielleicht auch mühevoller Prozess, doch wenn er uns gelingt, hebt er uns auf eine neue Stufe gesellschaftlicher Entwicklung. Nicht jede:n wird man damit erreichen. Es wird vermutlich auch einen kleinen Teil geben, der nicht anerkennen wird, dass sich die Welt verändert hat und wir deswegen neue Wertvorstellungen und Ideen zur Gestaltung der Zukunft brauchen werden.
- Jetzt entscheidet sich, wer wir nach der Pandemie sein werden, ob wir die Chance zum Wachsen genutzt haben werden oder einfach nur durchgehalten haben. Wer jetzt nicht bereit ist zu lernen, den wird die Zukunft schnell überholen. Gestalter:innen der Zukunft erkennen an, dass die aktuellen Veränderungen nicht nur vorübergehender Natur sind, sondern die Welt nach der Pandemie dauerhaft eine andere sein wird. Sie entwickeln daher jetzt gemeinsam mit anderen neue, tragfähige Ideen für ein gelingendes Miteinander in einer veränderten Welt.
Zum Weiterdenken: Mein Brückenbau in die Zukunft der Arbeit
Was bedeutet Zusammen-
arbeit für uns? Wie arbeiten wir jetzt zusammen und wie wollen wir zukünftig zusammenarbeiten?
Was bedeutet Führung für uns? Wie wird jetzt bei uns geführt und wie wollen wir zukünftig führen?
Was bedeutet gute Arbeit für uns? Welche Rolle spielt Arbeit jetzt und welche Rolle soll sie in der Zukunft spielen?
Quellen
Permantier, M. (2019). Haltung entscheidet. Führung & Unternehmenskultur zukunftsfähig gestalten. München: Verlag Franz Vahlen GmbH
Steinmeier (2021). Weihnachtsansprache 2021. Abgerufen 14.01.2022, von https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2021/12/211225-Weihnachtsansprache-2021.html
Bildquellen: Alle Illustrationen aus diesem Blog stammen von Lena Bittrich und Carolin Meyer