Komplexitätselefant

Lesedauer: ca. 6 Minuten
In den letzten Wochen beschränkten viele Supermärkte die Abgabemenge für bestimmte Produkte. Hinweisschilder wie „Bitte pro Kund:in nur 2 Flaschen Speiseöl, 2 Nudelpackungen, 2 Mehltüten“ waren keine Seltenheit. Auch die Tank- und Heizölpreise kletterten auf immer neue Höchstwerte. Hinzu kommen mehr und mehr Lieferengpässe aufgrund des Corona-Lockdowns in China. Obwohl die meisten von uns vermutlich bereits lange wissen, dass wir uns in einer globalisierten, unsicheren Welt bewegen, wurde uns wohl erst in den letzten Tagen wirklich bewusst, wie komplex die Zusammenhänge tatsächlich sind.
Was wir beim Wocheneinkauf, Online-Shoppen oder vielen weiteren Alltagssituationen im Kleinen erleben, sind Beispiele für das komplexe System der weltweiten Warenwirtschaft und Lieferketten, das durch Krieg oder Pandemie empfindlich gestört werden kann. Nicht nur wir Endverbraucher:innen merken das. Inzwischen klagen über 80 Prozent der deutschen Firmen über Engpässe und Probleme bei der Beschaffung von Vorprodukten und Rohstoffen (businessinsider).
Während wir in der Vergangenheit häufig Komplexität dadurch reduzieren konnten, dass wir Dinge einzeln und isoliert voneinander betrachteten, stößt dieses Vorgehen in unserer heutigen VUCA Welt zunehmend an seine Grenzen. In diesem Artikel wollen wir dieser Entwicklung näher auf den Grund gehen und diskutieren, was das für unsere Arbeitswelt bedeutet. Dazu wollen wir uns des Gleichnisses der blinden Männer*Frauen und des Elefanten bedienen.
Während wir in der Vergangenheit Komplexität durch die Betrachtung einzelner Teilaspekte reduzieren konnten, merken wir zunehmend, dass wir mit diesem Vorgehen in unserer heutigen VUCA Welt an unsere Grenzen stoßen.
In diesem Gleichnis untersucht eine Gruppe von Blinden einen Elefanten. Jede:r beschreibt anschließend, was er/sie erspürt hat. Die eine Person beschreibt einen Stamm bzw. eine Säule (Fuß), die andere einen Speer (Stoßzähne) und wieder eine andere eine Schlange (Rüssel). Da es für die Gruppe deutlich schwieriger gewesen wäre, den Elefanten als Ganzes zu erkennen, fokussierten sich die Personen auf einzelne Aspekte des Elefanten.
Auf diese Weise reduzierten die Teammitglieder zwar die Komplexität, sie vereinfachten aber auch die Situation so stark, dass sie letztlich nicht den Elefanten als solchen identifizierten und nur zu Teilwahrheiten gelangten. Hätten die Teammitglieder miteinander kommuniziert und die verschiedenen Perspektiven zusammengeführt, hätten sie das große Ganze, den Elefanten, erkannt.

Betrachten wir nur einzelne Perspektiven isoliert, reduzieren wir zwar die Komplexität erheblich, erhöhen aber auch die Gefahr, nur zu Teilwahrheiten zu gelangen

Treten wir einen Schritt zurück, erkennen wir die Gesamtheit des Bilds, den Komplexitätselefanten.
Übersetzen wir dieses Gleichnis auf die aktuellen Entwicklungen: Auch wir sind zur Zeit mit der Herausforderung konfrontiert, den Komplexitätselefanten der aktuellen Situation erfassen zu müssen. Niemand weiß, wie sich die Gesamtlage in Abhängigkeit zu den Geschehnissen in der Ukraine weiter entwickeln wird und was das für die Welt, Europa, Deutschland und jede:n von uns langfristig bedeutet. Und als wäre diese Herausforderung nicht komplex genug, müssen wir feststellen, dass wir die anderen großen Krisen unserer Zeit – Pandemie, Klimawandel, Inflation – dabei noch gar nicht in unsere Überlegungen einbezogen haben. Was uns also fehlt, ist der Gesamtblick auf das große ganze Bild. Welche Verbindungen ließen sich erkennen? Wie kämen die einzelnen Komponenten in einem Gesamtbild zusammen? Und vor allen Dingen, wie würde sich dieser Perspektivwechsel auf unsere Entscheidungen auswirken?
Auf diese Fragen lassen sich an dieser Stelle zwar keine abschließenden Antworten finden, wir möchten aber im Folgenden gedankliche Wege aufzeigen, wie wir zu mehr ganzheitlichem Denken und Handeln in unseren Unternehmen und Organisationen kommen.
Nach John Elkington – einem Vordenker in Sachen Nachhaltigkeit – wird verantwortungsvolles Unternehmertum anhand der sogenannten Triple bottom line gemessen. Demnach werden neben der Wirtschaftlichkeit (z.B. Umsatz oder Gewinn) auch das ökologische und soziale Ergebnis als Bestandteile der Unternehmensziele gesehen. Verena Pausder, Autorin von „Das neue Land“ und Gründerin, sieht die Zusammenführung dieser drei Perspektiven als Voraussetzung für erfolgreiches und zukunftsfähiges Unternehmertum: „Um wirklich nachhaltig zu sein – und in gewisser Weise auch weltverändernd-, gilt es, eine Balance zwischen allen dreien herzustellen.“ Dabei können uns Vorreiter-Firmen wie Alnatura, Ecosia, Einhorn oder auch Lemonaid, die mit gutem Beispiel vorangehen, als Vorbilder dienen und Mut machen (Pausder, 2020).
Die Balance zwischen allen 3 Perspektiven beschreiben die Autor:innen von „Denkanstöße 2022“ als Ökonomie der Verbundenheit. Sie sind der Überzeugung, dass wir die „systemische Blindheit“ nur überwinden können, indem wir „wieder Feedbackschleifen in die wirtschaftlichen Beziehungen [einführen], die allen Beteiligten die ökologischen und sozialen Auswirkungen ihrer Handlungen unmittelbar zurückspiegeln.“ (Scheidler, 2021)
Zunehmend sind wir mit der Herausforderung konfrontiert, den Komplexitätselefanten der aktuellen Situation erfassen zu müssen. Was uns fehlt, ist der Gesamtblick auf das große ganze Bild.
Zukunftsfähiges Unternehmertum wird sich in der Zukunft daran messen lassen, inwieweit wir neben der Wirtschaftlichkeit auch die ökologische und soziale Dimension in unsere Entscheidungen einbeziehen.
Ganzheitlichkeit kann aber auch bereits innerhalb der Unternehmen und Organisationen gedacht und gelebt werden, indem man anfängt, das Unternehmen oder die Organisation als Ganzes zu begreifen und den Blick für das öffnet, was die Bereiche, Abteilungen und/oder Teams verbindet. Das bedeutet ganz konkret, sich von der Silo-Mentalität und den Silo-Strukturen zu lösen und sich stattdessen entlang der Wertschöpfungsketten und der Kund:innenbedürfnisse auszurichten. Ganzheitlichkeit bedeutet hier über Abteilungs- und Teamgrenzen hinaus zu denken, das eigene Wissen und Erfahrungen wohlwollend zu teilen. Es bedeutet miteinander zu kommunizieren, sich offen über unterschiedliche Perspektiven auszutauschen und die Chancen zu sehen, die eine Zusammenarbeit innerhalb eines interdisziplinären Teams hervorbringt.

Verantwortungsvolles Unternehmertum zeichnet sich in der Zukunft vor allem dadurch aus, in unternehmerische Entscheidungen verschiedene Blickwinkel und deren Zusammenhänge einzubeziehen
Also lasst uns einen Schritt zurücktreten und unseren Blick öffnen, um zukünftige Entscheidungen unter Berücksichtigung verschiedener Perspektiven zu treffen. Lasst uns damit beginnen, gedankliche Cluster wie Wirtschaftlichkeit, Soziales und Umwelt oder auch die Aufteilung nach Abteilungen und Bereiche nach und nach aufzubrechen und stattdessen Verbindungen und Brücken zu bauen. Lösen wir die systemische Blindheit auf und machen wir den großen Elefanten im Raum sichtbar.
Mehrdimensionale Unternehmensziele, Feedbackschleifen und das Aufbrechen von Silo-Strukturen sind nur einige Beispiele, wie uns der Weg in Richtung Ganzheitlichkeit gelingen kann.
Fassen wir zusammen, was wir für unsere Unternehmen und Organisationen lernen können:
Der Versuch, Komplexität dadurch zu reduzieren, dass wir uns auf einzelne Probleme und Krisen fokussieren, stößt in der VUCA Welt an seine Grenzen. Wer Probleme isoliert betrachtet, gelangt häufig nur zu Teilwahrheiten und übersieht wesentliche Zusammenhänge und bestehende Interdependenzen. Gestalter:innen der Zukunft treten deshalb einen Schritt zurück und versuchen den Komplexitätselefanten in Gänze zu erfassen.
Verantwortungsvolles Unternehmertum wird sich in der Zukunft daran messen lassen, inwieweit wir neben der Wirtschaftlichkeit auch die ökologische und soziale Perspektive in unsere Entscheidungen einbeziehen. Mehrdimensionale Unternehmensziele, und das Aufbrechen von Silo-Strukturen sind nur einige Beispiele, wie uns der Weg in Richtung Ganzheitlichkeit gelingen kann.
- Das Denken in komplexen Zusammenhängen wird eine Jahrhundertaufgabe werden. Wie gut uns das gelingt, wird letztendlich darüber entscheiden, ob wir die großen Krisen unserer Zeit nachhaltig abwenden können. Lasst uns also jetzt damit beginnen, unseren Blick für das große Ganze zu schärfen. Fangen wir an Brücken und Verbindungen zu bauen zwischen den Erkenntnissen, die wir aus unterschiedlichen Perspektiven auf ein und dieselbe große Situation gewinnen können. Damit legen Gestalter:innen der Zukunft das Fundament für ganzheitliche Entscheidungen und werden Vorreiter für zukunftsfähiges Unternehmertum.
Zum Weiterdenken: Mein Brückenbau in die Zukunft der Arbeit
Inwieweit beziehen wir in Entscheidungen unserer Organisation verschiedene Perspektiven ein?
Welche Verbindungen lassen sich zwischen den verschiedenen Perspektiven identifizieren und welcher Komplexitätselefant ergibt sich in Gänze?
Wie kann ich dazu beitragen, dass wir in unserer Organisation ganzheitlich denken und handeln?
Quellen
Businessinsider (2022). Diese Grafiken zeigen, wie dramatisch der Materialmangel deutsche Firmen und Verbraucher gerade trifft. Abgerufen 19.04.2022, von https://www.businessinsider.de/wirtschaft/grafik-zeigt-dramatischen-engpass-material-lieferketten-deutsche-wirtschaft-corona-ukraine-krieg-a/
Pausder, V. (2020): Das neue Land. Wie es jetzt weitergeht! 2. Auflage, Hamburg: Murmann Publishers.
Scheidler, F. (2021): Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen, in: Nelte, I. (Hrsg.): Denkanstöße 2022. Ein Lesebuch aus Philosophie, Kultur und Wissenschaft. München: Piper Verlag, S. 41-70.
Bildquellen: Alle Illustrationen aus diesem Blog stammen von Lena Bittrich und Carolin Meyer