180-Grad-Wendung

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Der Corona-Winter 20/21 ist weiter in vollem Gange. Die Ungeduld nimmt zu und die Unzufriedenheit auch. Blindflug – Auf Sicht fahren – Im Nebel stochern. Rufe nach einer langfristigen Strategie und einem Plan B werden laut.
Wir sehnen uns nach Planbarkeit und Verlässlichkeit. Wann machen die Schulen wieder auf? Wann der Einzelhandel und die Restaurants? Wo und wie können wir Sommerurlaub machen? Doch darauf gibt es derzeit keine verlässlichen Antworten. Das zerrt an den Nerven und blockiert unser Denken. Wir sind es gewohnt, langfristige Pläne zu schmieden und unsere Vorhaben zu strukturieren. Wir haben ein gutes Gefühl, wenn wir unsere Projekte (und unser Leben) in ein festes Raster von Terminen, Meilensteinen und Deadlines fügen, um uns und die eigene Arbeit zu optimieren. Das ist die Strategie, die in den vergangenen Jahrzehnten gut funktioniert und uns erfolgreich gemacht hat. Doch die vielen Fragezeichen und Unsicherheiten machen Planung in dieser Form aktuell nicht möglich. Da kann man ganz schön nervös werden.
Dabei sind wir als Menschen Unsicherheiten eigentlich seit jeher gewohnt. Mit großem Selbstverständnis informieren wir uns täglich über das Wettergeschehen. Dank gewaltiger Rechenleistung unzähliger vernetzter Computer, welche die Wetterdaten tausender Wetterstationen in komplexen Modellen verarbeiten, erhalten wir eine ungefähre Vorhersage für die nächsten 24 Stunden, vielleicht ergänzt durch eine Drei-Tages-Prognose und die Großwetterlage. Und dennoch ist die Vorhersagekraft begrenzt. Der für heute angesagte Schauer kann ganz einfach ausbleiben und eine langfristige Prognose, ob wir einen warmen oder kalten Sommer zu erwarten haben, ist jetzt im Februar noch überhaupt nicht möglich. Niemanden verwundert das, weil jeder weiß, dass das Wetter eine komplexe Angelegenheit ist.
Seit einem knappen Jahr gibt es nun einen weiteren täglichen Bericht, den wir aufmerksam verfolgen. Der Lagebericht des RKI zu COVID-19 liefert uns tagesgenau Fallzahlen, Inzidenzwerte, Reproduktionswerte. Wir sehen Trendkurven und hören Risikobewertungen. Auch hier gibt es Modellrechnungen und Trendextrapolationen, aber – wie beim Wetter – keine langfristige Prognose, lediglich die tägliche Mahnung, Kontakte weiter zu vermeiden. Die tatsächlichen Zusammenhänge über die Wirksamkeit einzelner Maßnahme kennen wir sogar weniger gut als das Zusammenspiel der Wetterfaktoren und ungeahnte Schwierigkeiten durch fehlenden Impfstoff und das Auftauchen von Mutationen durchkreuzen bisherige Überlegungen. Es handelt sich also mehr noch als beim Wetter um eine hochkomplexe Angelegenheit. Anders als beim Wetter empfinden wir hier die fehlende langfristige Prognose aber zutiefst störend. Warum? Weil – anders als beim Wetter – uns die mangelnde Planbarkeit durch die Corona-Pandemie massiv daran behindert, unser Leben in gewohnter Weise zu führen.
Wir sind es gewohnt, langfristige Pläne zu schmieden und unsere Vorhaben zu strukturieren. Das ist die Strategie, die in den vergangenen Jahrzehnten gut funktioniert und uns erfolgreich gemacht hat.
Daher ist der Reflex, eine langfristige Strategie und einen Plan B zu fordern, nachvollziehbar und dennoch bizarr, denn Forderungen nach einer langfristigen Strategie haben einerseits so sehr den Anschein kompetenten Managements und gleichzeitig muten sie in der aktuellen Situation an wie ein altmodischer Vorschlag aus einer anderen Zeit.
Altmodisch? Ja, genau.
Betrachten wir einmal, was eine langfristige Strategie eigentlich ist und unter welchen Bedingungen diese möglich wird. Eine Strategie ist die langfristige Planung von Verhaltensweisen zur Erreichung eines Ziels (Gabler Wirtschaftslexikon). Dies setzt für den Planungszeitraum Planbarkeit voraus, also ausreichendes Wissen um die geltenden Daten und Fakten sowie eine stabile Situation ohne allzu große Dynamik. Ist diese komfortable Situation gegeben, dann wird jedes Problem beherrschbar. Selbst wenn das Problem kompliziert ist und eine sehr große Menge Expertenwissen zur Lösung erforderlich ist, lassen sich die Wissenselemente wie die Teile eines Puzzles verknüpfen. Man analysiert Daten und Fakten, stellt Berechnungen an, zieht Schlussfolgerungen, lässt Erfahrungswerte einfließen. Wir ordnen Wissen und leiten daraus Handlungen ab. Auf dieser Basis baut man einen langfristigen Plan auf, der hilft, das Ziel möglichst effizient zu erreichen. Wer einen Plan hat, der ist quasi schon am Ziel.
Natürlich waren aber auch in der Vergangenheit strategische Pläne durch Unvorhergesehenes gefährdet. Dafür gab es den sogenannten Plan B, der beschrieb, wie auf mögliche Risken zu reagieren wäre. Ein Risiko war eine Abweichung vom Standard, welche möglich, aber nicht unbedingt wahrscheinlich war. Die Dynamik, die sich aus Abweichungen ergab, war also gering. Dennoch, kompetentes Management zeichnete sich dadurch aus, auch mit dem Unvorhersehbaren zu rechnen und deswegen einen Plan B in der Schublade zu haben. Alles unter Kontrolle.

Wissen ist stabil. Die Puzzleteile werden geordnet und dauerhaft verbunden. Der Planungshorizont ist langfristig.
Die aktuelle Situation ist jedoch anders. Nichts würden die Verantwortlichen in diesen Tagen wohl lieber zur Verfügung haben als Wissen um die geltenden Fakten und differenzierte Kenntnis über ihre Beeinflussbarkeit. Die Corona-Pandemie ist kein Problem der Art, wie wir es kennen. Es ist für uns alle die erste COVID-19-Pandemie und Wissen und Erfahrungen hierzu wachsen nur allmählich heran. Wir hantieren mit unsicherem Datenmaterial. Die Wirkzusammenhänge sind nur unzureichend bekannt. Doch es mangelt in der aktuellen Situation nicht nur an Wissen, sondern die Situation ist zusätzlich auch noch hochdynamisch, weil unerwartete Wendungen alle bisherigen Überlegungen in Frage stellen können. Solche Situationen nennt man komplex. Sie unterscheiden sich von komplizierten Situationen dadurch, dass die Puzzleteile nicht von Anfang an in Gänze auf dem Tisch liegen, sondern erst nach und nach hinzukommen oder zwischendrin teilweise oder vollständig wieder ausgetauscht werden und manchmal, bei genauem Hinsehen, vielleicht auch gar nicht dazu gehören.
Statt einer langfristigen Strategie besteht in solch einem Fall nur die Möglichkeit auf Sicht zu fahren, was heißt, lediglich für den knappen Zeithorizont zu planen, für den wir die Bedingungen einigermaßen abschätzen können. Es bedeutet, in dem Rahmen zu agieren, den wir überschauen können. Alle Überlegungen reichen also aktuell immer nur „soweit das Wissen reicht“.

Wissen ist dynamisch. Das Puzzle zerfällt immer wieder und muss neu geordnet werden. Der Planungshorizont reicht „soweit ich weiß“.
„Soweit ich weiß“ ist der neue Planungshorizont. Was die jetzige Forderung nach einer langfristigen Strategie also so altmodisch macht, ist die mangelnde Erkenntnis, dass die aktuelle Situation sich von den meisten bisherigen Problemstellungen darin unterscheidet, dass sie das Wissen für die Entwicklung einer langfristigen Strategie ganz einfach nicht hergibt. Und auch die Idee von einem Plan B ist in der derzeitigen Situation verfehlt, denn es gibt nicht den einen Risikofaktor, für den wir einen Plan B entwerfen könnten, sondern jeder Faktor für sich könnte anders geartet sein als angenommen. Zudem besteht die ständige Gefahr neuer disruptiver Risiken, die die bisherigen Überlegungen über den Haufen werfen könnten. Hatten wir z.B. die alles verändernde Wirkung von Mutationen des Corona-Virus wirklich im Blick als wir voller Euphorie hörten, dass sich nun bald alles zum Besseren wenden würde wegen der erfolgreichen Entwicklung eines Impfstoffes? Die Dynamik ist sehr hoch. Jeder Plan B bräuchte einen Plan C, D und E und selbst das würde nicht reichen. Die Managementmaximen der vergangenen Jahre funktionieren in der aktuellen Situation nicht mehr. Komplexität lasst sich mit unseren bisherigen Problemlösungsstrategien nicht beherrschen.
Wie aber dann vorgehen in einer komplexen Situation, wie der Derzeitigen? Die Lösung heißt Agilität. Der Begriff ist nicht neu, aber seine praktische Bedeutsamkeit nimmt – zumindest im deutschsprachigen Raum – erst allmählich zu (Universität St. Gallen in Zusammenarbeit mit Campana und Schott, 2020). Nun machen wir gerade im Großen die Erfahrung, was agiles Denken und Handeln konkret bedeutet: „Soweit ich weiß“ als Grundlage aller Überlegungen. Nur den kurzen, begrenzten Zeithorizont planen, für den es einigermaßen gesicherte Daten gibt. Erkenntnisse sammeln. Mit Überraschungen rechnen. Lernen. Sich korrigieren. Erfahrungen und neue Erkenntnisse zusammentragen und zur Ausgangsbasis für den nächsten kurzen Planungshorizont machen. Die Krise lässt sich überstehen, wenn wir offen sind für diese andere, neue Vorgehensweise, die sich so sehr von dem unterscheidet, was uns bisher bekannt war.

Wir können große Pläne schmieden ODER agil vorgehen. Zukünftig werden wir die Erfolgreichen daran erkennen, diese 180-Grad-Wendung zu vollziehen, ohne ins Taumeln zu geraten.
In den vergangenen 12 Monaten seit Beginn der Corona-Pandemie haben wir langsam gelernt, die Nicht-Planbarkeit in unser Handeln einzukalkulieren. Der runde Geburtstag, der Sommerurlaub, …, wir wissen nicht, wie die Entwicklungen bis dahin sind und planen erstmal nicht langfristig, sondern warten ab. Planung nur soweit der aktuelle Kenntnisstand es zulässt. „Soweit ich weiß“ ist manchmal nur bis zum nächsten Treffen der Ministerpräsident:innen mit der Bundeskanzlerin und der Meeting-Rhythmus dieser Runde bestimmt unseren eigenen Planungshorizont.
In der Wiege des agilen Arbeitens, im fernen Silicon Valley ist diese Vorgehensweise seit Jahren Grundlage des Erfolgs. Der Planungshorizont ist der aktuelle Sprint und die Rahmenbedingungen für die anschließende Iteration werden erst durch das nächste Review mit den Kund:innen deutlich. Die Situation im Projekt verändert sich täglich und Daily-Stand-Up-Meetings helfen Ziele zu fokussieren und Probleme zu lösen. Google, Apple, alle Großen sind mit diesem Prinzip erfolgreich geworden. Agilität ist seit langem eine erprobte und bewährte Vorgehensweise zur Lösung komplexer Aufgaben.
Wagen wir also gedanklich eine 180-Grad-Wendung, indem wir uns von der Sehnsucht nach einer langfristigen Strategie verabschieden und stattdessen der Idee der Agilität eine Chance geben. Vielleicht ist es ja eine beglückende Lebens- und Arbeitsweise, wenn wir den Druck der langfristigen Perspektive, der großen fernen Ziele, nicht mehr haben, sondern stattdessen kurze aber planbare Zeitfenster proaktiv gestalten. Stellen wir uns doch ganz konkret die Frage, welchen Mehrwert wir für unser Leben und unsere Arbeit in dem kleinen und überschaubaren „Soweit ich weiß“-Zeitraum erbringen können. Welches Ergebnis ist in den nächsten drei bis vier Wochen möglich und was kann ich innerhalb dieses Zeitfensters erreichen und abschließen? Auch wenn wir bei dieser 180-Grad-Wendung anfangs vielleicht noch ins Taumeln geraten, sollten wir mutig bleiben. Die neue Richtung ist klar.
Begrüßen wir Agilität also als neue Erfolgsstrategie. Was wir jetzt lernen macht uns stark für weitere komplexe Herausforderungen der Zukunft. Komplexität wird immer mehr unsere Wirklichkeit bestimmen und daher ist Agilität eine Zukunftskompetenz. Zuversicht sollte die agile Epoche begleiten. Warum? Weil wir gerade mitten dabei sind, eine neue Sicht, eine neue Perspektive auf die Dinge zu entwickeln. Die langfristige Perspektive wird durch die Perspektive auf das Hier und Jetzt ergänzt. Fokussierung, Präsenz, Konzentration. Wir gewinnen an Flexibilität durch erweiterte Handlungsoptionen. Statt wie bisher immer nur nach einer langfristigen Strategie und dem Plan B zu verlangen, können wir zukünftig mehr: Wir können große Pläne schmieden ODER agil vorgehen. Zukünftig werden wir die Erfolgreichen daran erkennen, diese 180-Grad-Wendung zu vollziehen, ohne ins Taumeln zu geraten. Wem das gelingt, ist Gestalter:in der Zukunft, weil diese Fähigkeit es ermöglicht, die eigene Arbeitsweise an die unterschiedlichen Arten von Problemen situativ anzupassen.
Die aktuelle Frage nach einer langfristigen Strategie lässt sich also wie folgt beantworten: Die langfristige Strategie heißt Agilität und das zugehörige Mindset ist Zuversicht. Das bedeutet, jeden Tag von neuem proaktiv das planbare Zeitfenster zu gestalten, dabei zuversichtlich zu sein, jeden Tag voran zu kommen, täglich hinzuzulernen und am Ende, rückblickend erstaunt sein zu dürfen, was man alles geschafft und erreicht hat. „Soweit ich weiß“, ist (das) ein guter Plan.
Die langfristige Strategie heißt Agilität und das zugehörige Mindset ist Zuversicht. Das bedeutet, jeden Tag von neuem proaktiv das planbare Zeitfenster zu gestalten, dabei zuversichtlich zu sein, jeden Tag voran zu kommen, täglich hinzuzulernen und am Ende, rückblickend erstaunt sein zu dürfen, was man alles geschafft und erreicht hat.
Zum Weiterdenken: Mein Brückenbau in die Zukunft der Arbeit
Welche Elemente in meinem Leben und meiner Arbeit sind kompliziert, welche komplex?
Was könnte mich bei meiner 180-Grad-Wendung ins Taumeln bringen und wie kann es mir gelingen, das Gleichgewicht zu halten?
Was gewinne ich, wenn ich der Idee der Agilität eine Chance gebe? Warum darf ich zuversichtlich sein?
Quellen
Gabler Wirtschaftslexikon (2021). Abgerufen 10.02.2021, von http://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/strategie-43591
Universität St. Gallen in Zusammenarbeit mit Campana und Schott (2020). Future Organization Report 2020. Abgerufen 12.02.2021, von https://www.campana-schott.com/media/user_upload/Downloads/Brochure/DE/Broschuere_Future_Org_Report_DE_2020_FINAL.pdf
Bildquellen: Alle Illustrationen aus diesem Blog stammen von Lena Bittrich und Carolin Meyer