Bühnenkultur

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Zwei Jahre Pandemie und jetzt auch noch ein Krieg. Mit Entsetzen sehen wir Bilder von Zerstörung, Vertreibung und Grausamkeiten, die wir in Europa für nicht mehr möglich gehalten haben. Über Nacht ist unser Selbstverständnis über ein Leben in dauerhaftem Frieden, Freiheit und Sicherheit ins Wanken geraten. „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock. Neue politische Standpunkte bilden sich und jede:r von uns sucht persönlich nach Wegen, mit dieser neuen, transformierten Wirklichkeit irgendwie klarzukommen.

Wenn alte Gewissheiten nicht mehr gelten, führt das häufig zu Angst. Angst ist der Obergriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Gefühlsregungen, die allesamt mit dem Gefühl der Verunsicherung einhergehen. Betroffenheit, Fassungslosigkeit, Hilflosigkeit und Ohnmacht – das alles sind Elemente von Angst, die uns zu übermannen drohen. Wie können wir hier gegensteuern und welche Strategien gibt es, um einen gesunden Umgang mit der Angst zu finden? Führende Expert:innen der Angst- und Resilienzforschung geben hierzu u.a. folgende Antworten (ZEIT online, 2022):

  • Die Angst beim Namen nennen: Negative Gefühle werden quälender, wenn man sie abwehrt. Daher ist es wichtig, das Gefühl von Angst klar mit Worten zu benennen, statt es zu verdrängen. Was passiert gerade mit mir? Wie fühle ich mich? Die Verbalisierung der Gefühle hilft, uns von ihnen zu dissoziieren: Ich fühle Angst, aber ich bin nicht die Angst.
  • Über belastende Gedanken sprechen: Wer seine Ängste und Sorgen offen ausspricht und mit anderen teilt, wird erfahren, dass viele Menschen im eigenen Umfeld die Dinge ganz ähnlich wahrnehmen. Eine Erkenntnis, die meist Erleichterung verschafft. Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Stummes Aushalten von Angst scheint also kein adäquates Mittel zu sein. Vielmehr besiegen wir Angst, wenn wir sie aus unserem Inneren nach außen tragen, sie in aller Öffentlichkeit kundtun, sie ergründen, erforschen und benennen. Selbstexploration – das Verbalisieren des eigenen inneren Erlebens, der gegenwärtigen Erfahrungen sowie der damit verbundenen Gefühle und Bewertungen – scheint eine neue, wichtige Kompetenz zu sein, die wir brauchen, um wahrgenommene Bedrohungen emotional abzufedern.

Stummes Aushalten von Angst scheint also kein adäquates Mittel zu sein. Vielmehr besiegen wir Angst, wenn wir sie aus unserem Inneren nach außen tragen, sie in aller Öffentlichkeit kundtun, sie ergründen, erforschen und benennen.

Selbstexploration ist das Verbalisieren des eigenen inneren Erlebens, der gegenwärtigen Erfahrungen sowie der damit verbundenen Gefühle und Bewertungen und stellt eine wichtige Zukunftskompetenz dar.

Jegliche Veränderungs- und Transformationsprozesse – also auch alltägliche und berufliche Veränderungen – gehen mit Ängsten und Bedenken der Betroffenen einher. Damit ist Selbstexploration eine Kompetenz, die wir auch in unseren Organisationen und Unternehmen aufbauen sollten, um für Transformationsprozesse emotional besser gewappnet zu sein.

Doch unter welchen Voraussetzungen kann Selbstexploration im beruflichen Kontext gelingen und wie können wir uns gegenseitig dazu ermutigen und befähigen?

Um diese Frage zu beantworten, wollen wir zunächst den Begriff Selbstexploration noch etwas genauer erklären. Wir können uns Selbstexploration als aktives, lautes Denken vorstellen. Dadurch, dass ich meine Gedanken präzise in Worte fasse, für Empfindungen Begriffe wähle und Gefühle explizit mache, komme ich zu Einsichten über mein eigenes Erleben, die ohne Verbalisierung in dieser Explizitheit nicht entstanden wären. Selbstexploration hilft also beim Denken. Außerdem wirkt Selbstexploration angstreduzierend, denn durch das Verbalisieren trage ich ein Gefühl von innen nach außen, extrahiere und isoliere es von meiner Identität, statt in ihm zu erstarren.

Wir können uns Selbstexploration als aktives, lautes Denken vorstellen. Dadurch, dass ich meine Gedanken präzise in Worte fasse, für Empfindungen Begriffe wähle und Gefühle explizit mache, komme ich zu Einsichten über mein eigenes Erleben, die ohne Verbalisierung in dieser Explizitheit nicht entstanden wären. 

Das alles setzt jedoch voraus, dass ich mich mit meinem Inneren auf die Bühne wage, mich traue, meine Gedanken zu offenbaren, zur Schau zu stellen und mit anderen zu teilen. Ein Gefühl, das ich ins Rampenlicht geworfen habe, verliert seinen Schrecken. Selbstexploration braucht also die Bühne. Eine Bühne hat eine andere Wirkung als stilles Tagebuchsschreiben. Selbstexploration braucht die soziale Aktivierung, die Resonanz mit anderen, sie braucht Publikum und Zuhörer:innen. Gefühle, die offen auf die Bühne getragen werden, sind für alle sichtbar,- ich brauche sie nicht mehr zu bekämpfen, zu verstecken und zu vertuschen. Öffentliches Bekennen von Ängsten und Bedenken befreit.

Wir benötigen eine neue  Bühnenkultur,- eine, die es uns erlaubt, unsere Masken abzulegen und uns authentisch, ungeschminkt und verletzlich zu zeigen. 

Wie kann das nun aber im Kontext von Arbeit gelingen?

Für die meisten von uns dürfte es nämlich zunächst sehr ungewohnt sein, sich im Kontext der Arbeit über sich selbst und die eigenen Empfindungen, Bedürfnisse und Wünsche auszulassen: „Das ist doch unprofessionell, Emotionen gehören ins Privatleben. Wer Schwäche zeigt, kann nichts werden.
Gleichzeitig steigern jedoch undurchsichtige und komplexe Situationen und Krisenzeiten das Bedürfnis nach Selbstexploration und Aussprache.

Um Ängste und Bedenken ehrlich äußern zu können, brauchen wir in unseren Unternehmen und Organisationen eine neue Bühnenkultur. Statt weiterhin bevorzugt schillernde Erfolgsgeschichten zum Besten zu geben, sollten wir unser Programm vielfältiger gestalten. Wir brauchen auch Podien in geschützten, kleinen Räumen, in denen wir unsere Ängste, Sorgen und Bedenken einander vertrauensvoll vortragen können. Dabei sollten wir uns gegenseitig ein wohlwollendes, ermutigendes Publikum sein. Wir brauchen die Gewissheit, dass wir für die ehrliche Darbietung unserer Gedanken niemals Buh-Rufe ernten werden, sondern unser Mut stets mit Hochachtung belohnt wird. Es gibt kein richtig oder falsch. Es gibt nur authentisch und echt versus aufgesetzt und gekünstelt. Lassen wir also die Maske fallen, bewundern wir das Ungeschminkte, Echte, Authentische, die Verletzbarkeit und Ehrlichkeit.

Lassen wir also die Maske fallen, bewundern wir das Ungeschminkte, Echte, Authentische, die Verletzbarkeit und Ehrlichkeit. 

Die neue Souveränität verkörpern nicht diejenigen, die meinen, alles zu wissen, die auf alles eine Antwort haben und die vorgeben, sich nicht zu fürchten. Die neue Souveränität verkörpern vielmehr diejenigen, die wissen, dass Antworten erst gefunden werden müssen, die nicht bestreiten, dass Dinge schief gehen können und die anerkennen, dass es in jedem Veränderungsprozess immer berechtigten Grund zur Sorge gibt. Applaudieren wir denjenigen, die es wagen, diese neue Souveränität offen auf der Bühne zu verkörpern. Beklatschen wir die Selbstexplorativen – unsere neuen Stars.

Neben mutigen Selbstexplorativen benötigen wir auch ein unerschrockenes, kompetentes Publikum, das die neue Souveränität unserer Bühnenstars anerkennt und ihre Ängste, Sorgen und Unsicherheiten mit offenen Ohren empfängt. 

Diese ungeschminkten Darstellungen über die Wechselfälle des Lebens, über die eigene Ratlosigkeit und das Sorgen und Fürchten in Anbetracht großer Herausforderungen und drohender Gefahren erfordern ein unerschrockenes, gereiftes und kompetentes Publikum, das der Wucht einer dramatischen Botschaft standhält. Zweckoptimist:innen ertragen die Schwere einer solchen Darstellung häufig nicht. Sie sollten wir daher zukünftig auf die hinteren Zuschauerränge verweisen. Ihre Zwischenrufe nach dem Motto „Ach was, das wird schon nicht so schlimm!“ verhöhnen diejenigen, die sich berechtigter Weise fürchten, sie diffamieren weitsichtige Realist:innen als Miesmacher:innen und Pessimist:innen und erheben die schöne, heile Welt der allzeit Erfolgreichen in einen unanfechtbaren Kultstatus. So kann Transformation zum Besseren nicht gelingen.

Applaudieren wir denjenigen, die es wagen, diese neue Souveränität offen auf der Bühne zu verkörpern. Beklatschen wir die Selbstexplorativen – unsere neuen Stars.

Fassen wir zusammen, welche Schlüsse wir aus diesen Überlegungen für die Selbstexploration im Rahmen der Transformationsprozesse in unseren Unternehmen und Organisationen ableiten können:

  • Eine Welt, die ins Wanken gerät und einzustürzen droht, macht Angst. Die Legitimation von Angst und Ratlosigkeit dürfen wir als Befreiung empfinden, denn sie schafft die Voraussetzung dafür, dass wir Krisenzeiten emotional gesund durchstehen. Angst wird überwunden, wenn wir sie offen beim Namen nennen. Selbstexploration – das laute Denken – ist daher eine neue, wichtige Zukunftskompetenz.
  • Transformationsprozesse schüren – neben großen Hoffnungen – immer auch zahlreiche Ängste. In der Vergangenheit haben wir hauptsächlich auf Erfolgsgeschichten gesetzt, um kognitiv von Transformationsvorhaben zu überzeugen. Wir müssen jedoch einen Prozess der Selbstexploration über Ängste, Sorgen und Befürchtungen zulassen, damit Menschen einer Transformationsidee nicht nur kognitiv, sondern auch emotional folgen können.
  • Ängste und Befürchtungen verdienen Achtung und Beachtung. Hören wir also auf, immer nur Erfolgsgeschichten voneinander zu verlangen. Fordern wir uns stattdessen gegenseitig dazu auf, ehrlich zu erzählen, was uns bewegt, was uns ängstigt, sorgt und bange macht. Gestalter:innen der Zukunft teilen ihre Ängste und Sorgen genauso selbstverständlich mit anderen, wie ihre Erfolgsgeschichten und ermutigen andere, diesem Beispiel zu folgen.
  • Wir brauchen jedoch nicht nur die Mutigen, die ihre Ängste und Sorgen frei bekennen. Wir brauchen auch die Starken und Tapferen, die bereit sind, diese Ängste und Sorgen mit offenem Ohr aufzunehmen und auszuhalten. Das Schön- und Kleinreden von Problemen und Gefahren verhindert Transformation. Gestalter:innen der Zukunft gestehen anderen das Gefühl von Angst und Sorge zu und rücken somit eine urmenschliche Selbstverständlichkeit ins richtige Licht.

Zum Weiterdenken: Mein Brückenbau in die Zukunft der Arbeit

Wann habe ich das letzte Mal meine Maske fallen lassen und offen und ehrlich meine Gefühle gezeigt?

Wann habe ich das letzte Mal offen und aktiv jemanden zugehört?

Inwieweit fördert unsere Organisation eine solche Bühnenkultur?

Quellen

ZEIT online (2022). Sieben Tipps gegen die Angst. Abgerufen 20.03.2022, von https://www.zeit.de/gesundheit/zeit-doctor/2022-03/krieg-ukraine-angst-psyche-tipps 

Bildquellen: Alle Illustrationen aus diesem Blog stammen von Lena Bittrich und Carolin Meyer

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