Die 3. Dimension

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Im Angesicht stark steigender Inzidenzwerte sandte der Bundespräsident vor wenigen Tagen eine eindringliche Botschaft: „Diejenigen, die sich nicht impfen lassen, setzen ihre eigene Gesundheit aufs Spiel, und sie gefährden uns alle. Ich bitte Sie noch einmal: Lassen Sie sich impfen! Es geht um Ihre Gesundheit, und es geht um die Zukunft Ihres Landes!“ Die Geduld mit den Impfverweigerern scheint zu Ende. Haltelinien für Nicht-Geimpfte werden gezogen. „Zutritt nur für 2G“ und „Teillockdown für Ungeimpfte“ markieren eine neue Haltung gegenüber denjenigen, die sich aus persönlichen Gründen bisher nicht impfen lassen wollten.

Aber dürfen wir das? Ist das nicht diskriminierend? Ist das nicht intolerant? Widerspricht das nicht den Freiheitsrechten jedes / jeder Einzelnen? Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx hat hierzu eine eindeutige Haltung: „Eine Pandemie ist keine Privatsache. Die freie Entscheidung, sich nicht zu impfen, hat Effekte auf uns alle.“ (ZDF heute, 2021) Ist das der neue Maßstab? Wenn mein Handeln (oder nicht Handeln) Auswirkung auf das Gemeinwohl hat, enden da meine persönlichen Freiheitsrechte? Kann ich dann keine Toleranz mehr aus der Gesellschaft erwarten? Eine große Anzahl von Deutschen scheint hierzu inzwischen eine klare Haltung entwickelt zu haben. Eine Forsa-Umfrage zeigt, dass – anders als noch vor wenigen Monaten – inzwischen mehr als die Hälfte der Deutschen eine Impfpflicht für alle befürwortet (TAGESSPIEGEL, 2021).

Wir wollen hier einmal genauer hinschauen: Wie ist dieser Haltungswandel einzuordnen und welches Transformationspotential steckt darin? Können wir daraus auch etwas für die Transformationsprozesse in unseren Organisationen ableiten? Und gibt es vielleicht aktuell noch weitere Beispiele in anderen Kontexten, an denen wir diese neue Haltung ebenfalls beobachten können?

Klären wir zunächst einmal den Begriff „Haltung“. Er meint die Maßstäbe und Grundsätze, also die Wertvorstellungen und moralischen Prinzipien, nach denen eine Person das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer bewertet (Werteland & Werteakademie, 2021). Wir unterscheiden dabei drei unterschiedliche Dimensionen, die in die Bewertung einfließen (Weiterentwicklung aus Kohlberg, 1996, Permantier 2019).

Eine einfache, eindimensionale Haltung zieht lediglich faktisch-rationale Argumente zur Beurteilung des richtigen Verhaltens heran. Dies sind z.B. das Recht des Stärkeren, die bestehenden Regeln und die Frage nach der Effizienz. Es wird das als richtig angesehen, was der / die Stärkere will, was durch Regeln und Vorschriften gedeckt ist oder was sich rechnet. Persönliche Aspekte spielen für die Beurteilung noch keine Rolle.

Erst mit der zweiten Dimension kommen persönliche Argumente aus Sicht des einzelnen Individuums zum Tragen. Die Freiheit des oder der Einzelnen steht im Vordergrund. Jede:r soll sich frei entfalten können. Man zeigt Toleranz gegenüber individuellen Unterschieden. Richtig ist, was den Einzelnen / die Einzelne glücklich macht. Die langfristigen Auswirkungen sowie die sozialen und ökologischen Folgen des eigenen Handelns werden jedoch noch nicht berücksichtigt.

Der Blick auf den zeitlichen Horizont sowie auf das große Ganze ergibt sich erst aus der dreidimensionalen Haltung. Die soziale und ökologische sowie langfristige Verantwortung steht im Mittelpunkt. Richtig ist, was nachhaltig und im Sinne aller ist. Im Zweifel muss der / die Einzelne seine / ihre Bedürfnisse unterordnen. Ein egoistisches Verhalten, das dem Gemeinwohl schadet, wird nicht geduldet.

Eine einfache, eindimensionale Haltung zieht lediglich faktisch-rationale Argumente zur Beurteilung des richtigen Verhaltens heran. Mit der zweiten Dimension kommen persönliche Argumente aus Sicht des einzelnen Individuums zum Tragen. Der Blick auf den zeitlichen Horizont sowie auf das große Ganze ergibt sich erst aus der dreidimensionalen Haltung. 

Soweit das Modell. Und wo in diesem Modell sind wir zu verorten?

Lange Monate waren Forderungen nach einer Impfpflicht tabu, ebenso auch die Vorstellung, Ungeimpfte von Veranstaltungen oder dem öffentlichen Leben auszuschließen. Impfen wurde als individuelle Entscheidung gesehen, die Pflicht zur Offenlegung des Impfstatus gegenüber dem Arbeitgeber als Eingriff in den Schutz persönlicher Daten. Wer sich nicht impfen lassen wollte, argumentierte aus einer zweidimensionalen Sicht und fühlte sich dabei absolut im Recht. Der Freiheitsgedanke stand über allem und wer dagegenhielt, lief Gefahr, als intolerant wahrgenommen zu werden.

Doch offensichtlich ist in großen Teilen der Bevölkerung angesichts der dramatischen Entwicklungen in den vergangenen Wochen inzwischen die Erkenntnis gereift, dass ein komplexes Problem wie die Pandemie eine andere Sicht auf die Dinge erfordert und wohlmöglich alte Maßstäbe über Toleranz und individueller Freiheit ihre Gültigkeit verlieren. Die neue Haltung stellt die Freiheit des / der Einzelnen in den Hintergrund und toleriert kein Verhalten, das nicht im Einklang zur Verantwortung für das Gemeinwohl steht.

Was für eine Aussage! Was wir hier gerade als neue Haltung entwickeln, ist echte Transformation im Denken. Die Einbeziehung der dritten Dimension hat das Potential einer disruptiven Entwicklung, die unser gesellschaftliches Wertesystem dauerhaft auf einen neuen Level heben könnte. Was bedeutet das für uns und unsere Zukunft?

Betrachten wir beispielsweise einmal, was die Berücksichtigung der dritten Dimension für unsere Haltung zur Bekämpfung der Klimakrise bedeuten würde. Könnten wir weiterhin geltend machen, mit 180 Sachen über die Autobahn brausen, Flug-Mangos essen und Urlaub auf den Malediven machen zu wollen, weil uns das persönlich glücklich macht? Wäre die Verweigerung eines konsequent klimaneutralen Verhaltens nicht genauso sehr eine zweidimensionale, auf Freiheitsrechte pochende Haltung wie die der Impfgegner:innen, welche die Verantwortung für das Gemeinwohl ablehnen? Müssten wir also nicht für die Klimakrise denselben Maßstab anlegen wie für die Pandemiebekämpfung? Zu welchem Ergebnis brächte uns das beispielsweise bei der Frage nach einem generellen Tempolimit 130? – Es darf uns nicht überraschen, wenn wir diese Diskussion in Kürze führen werden. Die aktuelle Dynamik der Corona-Krise hat uns neue Erkenntnisse über die Bewältigung großer Krisen offenbart. Daran werden wir uns in Zukunft messen lassen müssen.

Was wir hier gerade als neue Haltung entwickeln, ist echte Transformation im Denken. Die Einbeziehung der dritten Dimension hat das Potential einer disruptiven Entwicklung, die unser gesellschaftliches Wertesystem dauerhaft auf einen neuen Level heben könnte. Die aktuelle Dynamik der Corona-Krise hat uns neue Erkenntnisse über die Bewältigung großer Krisen offenbart. Daran werden wir uns in Zukunft messen lassen müssen. 

Was bedeutet das für die Transformationsprozesse in unseren Organisationen?

In Organisationen, die sich lediglich an der ersten Dimension orientieren, findet man Arbeitsformen wie z.B. Dienst nach Vorschrift oder auch Management bei Objectives, also das zielorientierte Führen, bei dem das Erreichen quantitativer Ziele im Vordergrund steht. Die persönliche Entwicklung spielt hier noch keine Rolle. Erst mit der zweiten Dimension rückt der Blick auf die Mitarbeiter:innen in den Fokus. Empowerment und das Aufzeigen von Entwicklungsperspektiven bieten die Option auf Karriere und persönliches Fortkommen. Die überwiegende Anzahl von Organisationen lebt und vertritt aktuell diese Haltung. Diese birgt jedoch auch die Gefahr von Überarbeitung und Selbstausbeutung, wenn das Streben nach individuellem Glück zu übertriebenem Ehrgeiz führt. Diesem Aspekt wird explizit erst mit Einführung der dritten Dimension entgegengewirkt. Mit dem Blick auf die langfristige soziale Verantwortung treten Arbeitsformen in den Vordergrund, die das menschliche Wohlergehen in den Mittelpunkt stellen und mit Kraftreserven ressourcenschonend umgehen. Das ist die Geburtsstunde von New Work. Erste Unternehmen sind bereits mitten drin in dieser Transformation der Arbeit, haben sich die dritte Dimension als neuen Maßstab gesetzt und entwickeln sich nun zu attraktiven Organisationen der Zukunft, in denen sich Leben und Arbeit in ganz neuer Form verbindet.

Die Berücksichtigung der dritten Dimension ist also keine gänzlich neue Entwicklung, sondern auch unabhängig von der Corona-Pandemie auf dem Vormarsch. Einmal mehr erweist sich die Pandemie damit als Turbobeschleuniger für bestehende Trends.

Fassen wir zusammen, welches Transformationspotential in der Berücksichtigung der 3. Dimension steckt:

  • Lange Zeit basierte der gesellschaftliche Konsens auf einer zweidimensionalen Haltung. Die Freiheitsrechte des / der Einzelnen und die Toleranz für individuelle Unterschiede waren unser anerkannter Maßstab. Wir sehen jedoch, dass große Krisen mit dieser Haltung nicht gelöst werden können. Das führt mehrheitlich zu einer transformierten Haltung, die das Gemeinwohl über das Glück des / der Einzelnen stellt.
  • Die Berücksichtigung der dritten Dimension hat das Potential einer disruptiven Entwicklung, die unser gesellschaftliches und berufliches Wertesystem dauerhaft auf einen neuen Level heben könnte. Wenn wir langfristige, soziale und ökologische Verantwortung als neuen allgemeinen Maßstab ansetzen, wird dies auch an anderen Stellen zu ganz neuen Bewertungen führen.
  • Gestalter:innen der Zukunft erweitern daher jetzt ihre Haltung um die 3. Dimension. Sie fragen nicht mehr primär „Was nützt mir und meinen Zielen?“, sondern lassen sich stets von dem leiten, was langfristig und global verantwortlich ist. Sie liefern gute und nachahmenswerte Beispiele einer transformierten Lebens- und Denkweise und erbringen damit den lebenden Beweis, dass es attraktiv ist, Teil einer neuen, moralisch gereiften Gesellschaft zu sein.
  • Diese Transformation im Denken wird die Gesellschaft jedoch nicht im Gleichschritt vollziehen. Das Ringen zwischen denen, die die dritte Dimension bereits verinnerlicht haben und denjenigen, die aus der Macht der Gewohnheit weiterhin auf ihre persönlichen Vorteile pochen, zieht Risse quer durch Unternehmen, Familien und Freundeskreise. Daher müssen Gestalter:innen der Zukunft jetzt mutig sein und entschlossen Haltung zeigen.

Zum Weiterdenken: Mein Brückenbau in die Zukunft der Arbeit

Welche Dimension(en) zeigen sich in meiner Haltung? 

In welcher Haltungsdimension befindet sich meine Organisation gerade?

Wie kann ich dazu beitragen, eine dreidimensionale Haltung zu initiieren / zu fördern?

Quellen

Kohlberg, L. (1996). Die Psychologie der Moralentwicklung. Berlin: suhrkamp taschenbuch wissenschaft

Permantier, M. (2019). Haltung entscheidet. Führung & Unternehmenskultur zukunftsfähig gestalten. München: Verlag Franz Vahlen GmbH

TAGESSPIEGEL (2021). Mehrheit der Deutschen will Impfpflicht für alle. Abgerufen 20.11.2021, von https://www.tagesspiegel.de/politik/forsa-umfrage-ergab-anstieg-auf-57-prozent-mehrheit-der-deutschen-will-impfpflicht-fuer-alle/27771606.html

Werteland & Werteakademie (2021). Enzyklopädie. Abgerufen 20.11.2021, von https://werteland.com/enzyklopaedie/haltung

ZDF heute (2021). Neue Corona-Welle – Buyx bei Lanz: Pandemie ist keine Privatsache. Abgerufen 20.11.2021, von https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-lanz-buyx-haseloff-impfung-100.html

Bildquellen: Alle Illustrationen aus diesem Blog stammen von Lena Bittrich und Carolin Meyer