Goldene Lebenszeit

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Weihnachten rückt mit großen Schritten näher. Die alljährliche, vorweihnachtliche Betriebsamkeit ist bereits in vollem Gange. Nach zwei Jahren Corona sind unsere Kalender wieder eng getaktet mit diversen Aktivitäten, die das Herz erfreuen sollen: Weihnachtsfeiern, Einkaufsbummel, gemeinsames Plätzchen backen, Treffen auf dem Weihnachtsmarkt, …

Während wir also in Höchstgeschwindigkeit durch die letzten Wochen des Jahres rauschen und die Tage mit all den vielen Terminen wie im Flug vergehen, wird es auch schon wieder Zeit, ein paar gut gemeinte Neujahrsvorsätze zu schmieden: Weniger Stress, mehr Zeit für Freund:innen, mehr Sport, gesünder essen, eine bessere Work-Life-Balance, … Mehr von dem Guten und weniger von dem Schlechten. Was auf den ersten Blick zunächst logisch erscheint, stellt sich beim näheren Hinsehen als irreführendes Narrativ heraus.

Wir wollen gut gemeinte Vorsätze für ein besseres, gesünderes und stressfreieres Leben kritisch unter die Lupe nehmen und zeigen, dass wir für ein glücklicheres Leben, neue Narrative brauchen.

Stellen wir uns zunächst einmal jeden Tag als einen Teller vor und all die vielen, möglichen Aktivitäten, mit denen wir diesen Teller befüllen können, als ein Buffet. Die Größe des Tellers ist nicht verhandelbar: Jeder Tag hat nur 24 Stunden. Daher brauchen wir am Buffet die richtige Strategie, um uns einen wirklich „guten Teller“ zusammenzustellen, der uns glücklich macht.

Am Buffet des Lebens stehen uns die verschiedensten Gerichte und Angebote zur Verfügung. Daher brauchen wir die richtige Strategie, um uns einen wirklich „guten Teller“ zusammenzustellen, der uns glücklich macht 

Wir könnten z.B. die Strategie verfolgen, unseren Teller möglichst voll zu machen, um von allem etwas probieren zu können. Schließlich wollen wir nicht das Gefühl haben, etwas von dem wunderbaren Angebot zu verpassen. Im Ergebnis hätten wir vermutlich jedoch ein großes und schlecht händelbares Durcheinander auf unserem Teller. Denn egal wie sehr wir die Sachen auf dem Teller stapeln und hin und herschieben, mehr Platz gewinnen wir dadurch nicht. Der Braten liegt also auf der Beilage, der Nachtisch vermischt sich mit dem Salat. Die Dekoration kippt vom Teller und vom Rand tropft die Soße. Wer am Buffet nichts auslassen will, der läuft Gefahr, dass die Freude beim Essen zu kurz kommt und man sich anschließend kaputt und müde fühlt, weil man viel zu viel und alles durcheinandergegessen hat.

Wir könnten aber auch eine ganz andere Strategie verfolgen, nämlich unseren Teller möglichst genussvoll zusammenzustellen. Auf dem Weg zum Buffet würden wir überlegen, wie groß unser Hunger eigentlich ist und wie viel oder wenig vom Guten wir daher wirklich mit Appetit verspeisen könnten. Wir suchen uns ganz gezielt nur einzelne hochwertige Gourmethappen aus, die optisch und geschmacklich eine wahre Freude sind. Wir achten auf ein gutes Gesamtarrangement mit ausreichend Platz, damit jedes einzelne kulinarische Meisterwerk zur Geltung kommen kann. Wir nehmen die einzelnen Geschmäcker achtsam wahr und machten zwischen den Häppchen kleine Pausen. Wer am Buffet gezielt auswählt, der hat die Chance, das Essen zu einem Moment des besonderen Genusses werden zu lassen, weil jedes Aroma sich entfalten und jede Köstlichkeit zur Geltung kommen kann.

Wer am Buffet nichts auslassen will, der läuft Gefahr, dass die Freude beim Essen zu kurz kommt und man sich anschließend kaputt und müde fühlt, weil man viel zu viel und alles durcheinandergegessen hat.
Wer dagegen am Buffet gezielt auswählt, der hat die Chance, das Essen zu einem Moment des besonderen Genusses werden zu lassen, weil jedes Aroma sich entfalten und jede Köstlichkeit zur Geltung kommen kann.

Soweit die Metapher. Doch was bedeutet das nun für unsere guten Vorsätze?

Ähnlich voll wie unsere Buffet-Teller sind bisweilen auch unsere Kalender und To Do Listen. Die Buffet-Strategie „möglichst voll“ scheint häufig auch für unser Leben zu gelten. Wir glauben „möglichst voll“ stehe für ein erfülltes Leben. In Folge dessen setzen wir auf Selbstoptimierung und füllen unsere Tage mit möglichsten vielen Terminen, weil wir annehmen, dass uns das glücklich macht.

Unserer Meinung nach wird diese Vorstellung durch zwei – uns allen vermutlich bestens bekannte – Narrative gespeist, die wir an dieser Stelle einmal kritisch beleuchten wollen:

Die Idee von „einer besseren Work-Life-Balance“. Das Narrativ, das dieser Vorstellung zugrunde liegt, lautet: „Unser Dasein besteht aus lediglich zwei Sphären, die sich in etwa die Waage halten sollten: Die Arbeit auf der einen und den verdienten Ausgleich davon auf der anderen Seite.“ (Elsner, 2021) Doch wer sagt, dass uns „Work“ nicht auch Freude und Energie schenken kann? Und wo in diesem Modell kommen die lästigen Notwendigkeiten des Alltags vor, das Bügeln und Putzen, der Wocheneinkauf und der Arztbesuch? Ist es nicht in Wirklichkeit so, dass wir all diese Dinge in der Kategorie „Life“ unterbringen, ohne dass sie uns den suggerierten Ausgleich verschaffen würden? Das Narrativ, dass „Life“ eine angebliche Balance zur Arbeit und den lästigen Notwendigkeiten darstellt, führt dazu, dass wir unser „Life“ möglichst vollpacken und damit verhindern, das zu genießen, was uns eigentlich Freude bereiten sollte.

Das Narrativ, dass „Life“ eine angebliche Balance zur Arbeit und den lästigen Notwendigkeiten darstellt, führt dazu, dass wir unser „Life“ möglichst vollpacken und damit verhindern, das zu genießen, was uns eigentlich Freude bereiten sollte.

Das Narrativ, dass das Leben besser ist, je voller wir es packen, vernachlässigt unser Bedürfnis nach Ruhe, Erholung und Regeneration, nach Müßiggang und zweckfreier Zeit und führt uns bisweilen in eine Burnout-gefährdete Situation.

Ähnlich verhält es sich mit der Vorstellung „Es ist alles eine Frage des richtigen Zeitmanagements“. Das Narrativ, das dieser Vorstellung zugrunde liegt, lautet: „Ziel ist es, möglichst viel zu schaffen. Mithilfe des richtigen Zeitmanagements ist das möglich, denn damit lässt sich immer noch etwas zusätzliche Zeit herausholen. Doch ist es wirklich erstrebenswert, möglichst viel in einem 24-Stunden-Tag unterzubringen? Oder ist es in Wirklichkeit nicht so, dass übervolle Tage, Termine, die sich nahtlos aneinanderreihen, eng getaktete Zeitfenster und zu viele parallele Aufgaben und Verpflichtungen uns erschöpfen, selbst wenn uns all das, was wir in unserem ehrgeizigen Zeitplan unterbringen, eigentlich vielleicht sogar Spaß machen würde? Das Narrativ, dass das Leben besser ist, je voller wir es packen, vernachlässigt unser Bedürfnis nach Ruhe, Erholung und Regeneration, nach Müßiggang und zweckfreier Zeit und führt uns bisweilen in eine Burnout-gefährdete Situation.

Diese beiden Beispiele zeigen: Irreführende Narrative behindern uns in unserer Lebensgestaltung (Ouassil & Karig, 2021). Sie suggerieren uns Ziele, die uns nicht guttun und gefährden unser Glück. Bevor wir uns also – wie in jedem Jahr – daran machen, Neujahrsvorsätze zu schmieden, wollen wir für eine Transformation dieser Narrative werben. Wir wollen ein Plädoyer halten für eine Tagesgestaltung mit weniger Effektivität und Selbstoptimierung (möglichst voll) und stattdessen mehr „goldener Lebenszeit“ (möglichst genussvoll). Unser neues Narrativ lautet: „Qualität und Tiefe vergolden das Leben.“

Doch wie kommen wir zu mehr Qualität und Tiefe in unserem Leben? Wie schaffen wir mehr goldene Lebenszeit? Zwei Dinge erscheinen fundamental wichtig:

1. Fokussierung:
Um Qualität und Tiefe im Alltag zu leben, brauchen wir Fokussierung auf das, was wir gerade tun. Multitasking – das Alltagsübel schlechthin – bedroht sowohl unsere geistige Produktivität als auch das Glück menschlicher Begegnung. Multitasking verhindert, dass wir in der Arbeit oder im Umgang mit Anderen Qualität und Tiefe erleben. Wenn wir Qualität und Tiefe wollen, dann ist Multitasking, das Erste, was wir verbannen sollten. Multitasking hat in „goldener Lebenszeit“ nichts zu suchen.

Im Arbeitskontext heißt Fokussierung, aus all den vermeintlich wichtigen und dringenden Aufgaben ganz bewusst einige wenige, wirklich lohnenswerte auszuwählen und diese mit Hingabe und geistiger Präsenz zu bewältigen. Nur Kontemplation – das tiefe geistige Eintauchen in eine Aufgabe – bringt uns inhaltlich wirklich voran und schenkt uns geistiges Wachstum. Flow-Erlebnisse, die sich bei einer solch vertieften Arbeitsweise einstellen, sind existentiell wichtig für unser Glück. Geben wir unserer Arbeit also einen Goldanstrich. Verteidigen wir unseren Geist gegen jede Form von Overload und Überforderung.

Für die Begegnung mit anderen heißt Fokussierung, sich der/dem Gegenüber frei von den Ablenkungen des Smartphones mit voller Aufmerksamkeit zu widmen, während des Kontaktes ganz im Hier und Jetzt zu sein, Präsenz und Nähe zu schenken und einen tiefen, ehrlichen und innigen Austausch zu pflegen. Veredeln und vergolden wir also unsere menschlichen Begegnungen. Verteidigen wir unsere Zugewandtheit gegen jede Form von Zerstreuung und Ablenkung durch virtuelle Parallelwelten.

2. Freiraum und Müßiggang:
„Goldene Lebenszeit“ benötigt großzügige, zeitliche Spielräume. Die enge Zeittaktung und zunehmende Verdichtung des beruflichen und privaten Alltags gefährden unsere Schaffenskraft und Kreativität und berauben uns unserer persönlichen Kraftressourcen. Wenn wir Qualität und Tiefe wollen, dann dürfen wir nicht jede Minute verplanen. Verdichtung und Überfüllung passen nicht zu „goldener Lebenszeit“.

Entzerren wir also den Alltag und beschenken wir uns mit Freiräumen und Leerlaufphasen. Setzen wir Termine bewusst und reservieren wir großzügige Zeitabschnitte zum Ausruhen und Kräftesammeln, zum Reflektieren und Nachdenken und für spontane Vorhaben. Integrieren wir Pausen, stille Stunden und Fokuszeiten als goldene Inseln in unserem Alltag und fixieren wir goldene „No-Date-Bereiche“ als Abstandshalter zwischen unseren Vorhaben.

Gestalter:innen der Zukunft durchleuchten ihre Neujahrsvorsätze kritisch und wählen einige wenige aus, die zu mehr goldener Lebenszeit und damit ein goldschimmerndes Jahr 2023 führen.

Um Qualität und Tiefe im Alltag zu leben, brauchen wir Fokussierung auf das, was wir gerade tun. Veredeln und vergolden wir also unsere menschlichen Begegnungen. Verteidigen wir unsere Zugewandtheit gegen jede Form von Zerstreuung und Ablenkung durch virtuelle Parallelwelten. 

Integrieren wir Pausen, stille Stunden und Fokuszeiten als goldene Inseln in unserem Alltag und fixieren wir goldene „No-Date-Bereiche“ als Abstandshalter zwischen unseren Vorhaben.

Fassen wir zusammen:

  • In einer schnelllebigen, verdichteten Zeit ist das Bedürfnis nach mehr guter, goldener Lebenszeit groß. Doch nicht jeder Vorsatz führt automatisch in eine bessere Wirklichkeit. Narrative über quantitative Selbstoptimierung (möglichst voll) verstärken den Stresslevel und lassen qualitative Aspekte einer gelungenen Lebensführung (möglichst genussvoll) außer Acht.
  • Geschichten haben eine stark steuernde Wirkung auf uns Menschen. Sie enthalten unterschwellige Botschaften, an denen wir unser Handeln ausrichten. Geschichten, die dazu führen, dass wir uns überstrapazieren, sollten wir ersetzen durch solche, die guttun. Die Geschichte der goldenen Lebenszeit ist ein Gegenentwurf zu der Botschaft der vermeintlich erfolgsversprechenden Selbstoptimierung durch Dichte und Geschwindigkeit.
  • Das neue Narrativ lautet: „Mehr Qualität und Tiefe vergolden das Leben.“ Die Farbe Gold steht für alles, was zu mehr Qualität und Tiefe in unserem Tun führt. Damit erlangen Fokussierung, Kontemplation und geistiger Präsenz sowie zeitliche Freiräume eine neue Wertigkeit. Das Narrativ der „goldenen Lebenszeit“ setzt also transformierte Maßstäbe für eine positive Lebensgestaltung. Nicht die Quantität, sondern vor allem die Qualität unseres Tuns entscheidet über das Gefühl von Glück.
  • Jedes Narrativ stellt implizit die Forderung an uns, geeignete Verhältnisse zu schaffen, um die jeweilige Botschaft Wirklichkeit werden zu lassen. Die Geschichte von der „goldenen Lebenszeit“ lässt all jene Bemühungen im Goldglanz erscheinen, die dazu dienen, den Alltag mit mehr Glück durch Qualität und Tiefe zu durchziehen. In diesem Sinne wünschen wir allen Gestalter:innen der Zukunft viel Freude und Genuss beim Schmieden goldener Vorsätze und ein erfolgreiches, goldschimmerndes Jahr 2023.

Zum Weiterdenken: Mein Brückenbau in die Zukunft der Arbeit

Welche Maxime überwiegt in meinem Leben und unserer Organisation? „Möglichst voll“ oder „möglichst genussvoll“?

Wann habe ich das letzte Mal einen Moment der „goldenen Lebenszeit“ erlebt?

Was nehme ich mir vor, um das Jahr 2023 so erfolgreich und goldschimmernd wie möglich zu gestalten?

Quellen

Elsner, D. (2021). Ausgebalanced. Wie du alles unter einen Hut bekommst, was dir wichtig ist. Mit dem Taylor-your-Life-Prinzip. Offenbach: GABAL Verlag GmbH

El Ouassil, S. & Karig, F. (2021). Erzählende Affen: Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH

Bildquellen: Alle Illustrationen aus diesem Blog stammen von Lena Bittrich und Carolin Meyer

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