Minigolf-Narrativ

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Noch vor einigen Wochen beobachteten wir teils ratlos, teils verunsichert die TV-Trielle der drei Kanzlerkandidaten und Kandidatin. Unvereinbare Positionen prallten aufeinander und keine davon erhielt in den Prognosen ein eindeutiges Votum der Wähler:innen. Wie eine zukünftige Regierung aussehen könnte, blieb bis zum Wahltag noch völlig offen.

Mittlerweile hat Deutschland gewählt und es zeichnen sich langsam Bilder einer möglichen Koalition ab. Dabei können wir beobachten, dass – anders als sonst üblich – die kleinen Parteien die Regie übernommen haben. Mit einem gemeinsamen Selfie und einer gemeinsamen Botschaft überraschten FDP und Grüne die politischen Kontrahent:innen und die Presse gleichermaßen. „Auf der Suche nach einer neuen Regierung loten wir Gemeinsamkeiten und Brücken über Trennendes aus. Und finden sogar welche. Spannende Zeiten.“ (Baerbock, 28.09.2021) Dieses Statement ist wohlmöglich der Beginn einer neuen Geschichte über die Politik der Zukunft.

Wir bilden ein fortschrittsfreundliches Zentrum,“ (tagesschau.de, 9.10.2021) sagte Christian Lindner nur wenige Tage später und gab damit der Geschichte – dieser Veränderung – eine Überschrift, ein verbindendes Motto, ein Narrativ.

Transformationsprozesse sind kein Automatismus. Sie gehen häufig mit Unsicherheiten und Orientierungslosigkeit einher.

In diesem Artikel wollen wir uns dem Thema „Narrativ“ widmen und die Frage stellen, welche Rolle Narrative für Transformationsprozesse spielen und wie wir diese gestalten müssen, damit sie Orientierung und Ansporn in Zeiten von Veränderungen bieten.

Klären wir zunächst einmal, was ein Narrativ überhaupt ist. Ein Narrativ ist eine sinnstiftende Erzählung, in der Werte und Emotionen vermittelt werden (Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik, 2021). Ein Narrativ bündelt Kräfte und versammelt große Gruppen von Menschen hinter einer gemeinsamen Idee. Das Narrativ erklärt, wofür und warum sich Menschen für eine Idee persönlich einsetzen. (Harari, 2019)

So weit so gut. Doch was nützen uns Narrative?

Ein Narrativ bündelt Kräfte und versammelt große Gruppen von Menschen hinter einer gemeinsamen Idee. Das Narrativ erklärt, wofür und warum sich Menschen für eine Idee persönlich einsetzen. 

Der Historiker Yuval Noah Harari beschreibt, dass Menschen nur dann in großen Gruppen effektiv zusammenarbeiten können, wenn sie an gemeinsame Narrative glauben. Als Voraussetzung nennt er die fiktive Sprache, also die menschliche Fähigkeit, sich über Dinge auszutauschen, die nur in unserer Vorstellung bestehen. Über die Sprache können wir z.B. über Pläne, Ideen und Möglichkeiten spekulieren und Zukunftsbilder und Werte entwickeln. Glauben wir an diese Werte, Ideen und Zukunftsbilder und werden wir persönlich überzeugt, dass diese richtig und erstrebenswert sind, entsteht nach Harari eine „erdachte Ordnung“, ein Narrativ. Wir sind dann bereit, uns im Sinne dieser Ordnung und aller damit verbundenen Ideen und Werten zu verhalten und persönlich einzusetzen. (Harari, 2019)

Nach Harari ist also die Idee des „fortschrittsfreundlichen Zentrums“ zunächst nur eine Fiktion, eine erdachte Ordnung. Diese aber hat das Potential eine große Menge von Menschen hinter sich zu versammeln, sofern sie denn überzeugt.

Narrative versammeln Menschen hinter einer gemeinsamen Idee und bieten in Veränderungsprozessen Orientierung.

Daraus leitet sich zwangsläufig die Frage ab: Wann überzeugt denn ein Narrativ?

Untersucht man unterschiedliche Modelle des Storytellings, so sticht ein gemeinsames Element hervor: Die Figur des Widersachers, einer Gegenspielerin, ein Grund weswegen, ein Vorhaben, eine Idee vereitelt werden könnte. Damit Menschen bereit sind, sich im Sinne einer Idee persönlich einzusetzen, braucht es offenbar die Vorstellung, dass es einen Gegenpart gibt, der entgegengesetzte Ziele verfolgt. Dadurch erst werden wir wirklich motiviert, uns mit voller Kraft für die Idee zu engagieren.

Damit Menschen bereit sind, sich im Sinne einer Idee persönlich einzusetzen, braucht es offenbar die Vorstellung, dass es einen Gegenpart gibt, der entgegengesetzte Ziele verfolgt. Dadurch erst werden wir wirklich motiviert, uns mit voller Kraft für die Idee zu engagieren. 

Am Beispiel von FDP und Grünen reicht es daher nicht aus einfach nur zu sagen: „Wir wollen Fortschritt, um die Probleme dieser Zeit zu lösen.“ Vielmehr braucht es zu dem geforderten Fortschritt die reale oder fiktive Figur des Gegenspielers / der Gegenspielerin, die den Fortschritt aufhält, verhindern und vereiteln will. In der Formulierung „Wir bilden ein fortschrittsfreundliches Zentrum“ wird genau dieser Tatsache Rechnung getragen. Die Aussage impliziert, dass es Bereiche außerhalb dieses Zentrums gibt, die nicht fortschrittsfreundlich oder sogar fortschrittsfeindlich sind. Gegen diese Bereiche, gilt es den Gedanken von Fortschritt zu verteidigen. Damit wird die Idee des Fortschritts emotional aufgeladen, auf eine höhere affektive Stufe gehoben und scheint deswegen unsere Unterstützung und unseren persönlichen Einsatz zu verdienen. Wichtig ist bei der Formulierung des Narrativs, dass wir die Gegenspieler:innen nicht explizit nennen, sondern stattdessen unsere eigenen Stärken und Ressourcen (hier z.B. fortschrittsfreundlich) betonen und zu einem impliziten Gegenspieler / einer impliziten Gegenspielerin in Kontrast setzen.

Die Figur des / der Gegenspieler:in ist also für Narrative ganz entscheidend, denn sie hilft uns, eine emotionale Hebelwirkung zu erzielen und unserem Transformationsprozess den nötigen affektiven Aufschwung zu verleihen. Vergleichbar ist dieser Aufschwung mit dem Bild einer Minigolf-Bahn, bei welcher der Minigolf-Ball über ein Hindernis hinweg in ein höher gelegenes Netz geschlagen werden muss. Zunächst scheint die Aufgabe unmöglich. Bei genauer Betrachtung brauchen wir aber genau dieses Hindernis, um den Ball hoch genug zu heben, um ihn in das Netz zu schlagen.

Die Figur des / der Gegenspieler:in hilft uns, eine emotionale Hebelwirkung zu erzielen und unserem Transformationsprozess den nötigen affektiven Aufschwung zu verleihen. 

Die Figur des / der Gegenspieler:in wirkt zunächst wie ein Hindernis. Doch sie ist es, welche die notwendige emotionale Hebelwirkung für den Transformationsprozess erzeugt.

Doch was können wir daraus nun für die Transformation der Arbeit lernen?

Bauen wir uns aus unseren Überlegungen einmal eine Anleitung zur Erstellung eines Narrativs für unternehmerische Transformationsprozesse:

  1. Definiere zunächst das Ziel deines Transformationsprozesses. Was wollen wir mit der Transformation erreichen? Wofür ist sie gut? Welches Ziel verfolgt die Transformation?

  2. Identifiziere die Gegenspieler:innen zu dieser Transformationsidee. Wer oder was könnte dieser Idee im Weg stehen, sie behindern oder vereiteln? Welches Ziel hat der / die Gegenspieler:in

  3. Benenne deine Stärken und Ressourcen, mit der du die Transformationsidee gegen die Gegenspieler:innen verteidigen kannst. Wer sind wir, im Gegensatz zu den Gegenspieler:innen? Welches Gegengewicht stellen wir dar? Wie heißt unser Team und was zeichnet es aus?

  4. Füge nun alle drei Punkte innerhalb eines Narrativs zusammen. Unter welchem Motto wollen wir die Transformation angehen? Welches Motto soll uns begleiten?

Nehmen wir uns als Beispiel ein mittelständisches Unternehmen. Es steht zu Beginn einer großen Transformationsaufgabe. Die Geschäftsführung hat die Dynamiken der Zeit und die Notwendigkeit neuer Formen der Zusammenarbeit erkannt. Konkret hat die Personal- und Geschäftsführung das Ziel, die starren Hierarchien und Silo-Einheiten durch netzwerkartige Organisationsstrukturen aufzubrechen. Gegenspieler:innen sind vor allem Mitarbeiter:innen und Führungskräfte, die sich an die alten Strukturen gewöhnt haben und persönliche und berufliche Vorteile daraus ziehen. Da sie keinen Mehrwert in einer Transformation sehen, verweigern sie ihr Engagement und treten in den Widerstand. Dem gegenüber steht das frisch initiierte Veränderungsteam. Dieses umfasst hierarchie- und funktionsübergreifende Change-Agents, die kommunikationsfreudig sind und sowohl neuen Themen als auch neuen Formen der Zusammenarbeit aufgeschlossen gegenüberstehen. Das Veränderungsteam ist gut ausgebildet, vernetzt sich innerhalb als auch außerhalb des Unternehmens und sieht das gemeinschaftliche Miteinander im Zentrum der zukünftigen Zusammenarbeit. Basierend auf diesen Informationen könnte das zukünftige Narrativ also in etwa wie folgt lauten: Wir sind die Gemeinschaft der Zukunftsmacher:innen, denn wir teilen und potenzieren unser Wissen und unsere Kompetenzen zum Wohle unseres Unternehmens.

Für die Entfaltung eines wirkungsvollen Narrativs bedarf es folgender vier Schritte: Definition des Veränderungsziels, Identifikation der Gegenspieler:innen, Ermittlung der eigenen Ressourcen und Stärken sowie Zusammenführung der Informationen zu einem Narrativ.

Fassen wir zusammen, was wir in Bezug auf Narrative für den Transformationsprozess ganz konkret ableiten können:

  • Menschen sind veränderungsscheu, da Veränderungen oft mit Unsicherheiten einhergehen und uns viel Kraft und Mühe kosten. Narrative geben uns nicht nur eine Richtung vor, mit der uns ein Einstieg in eine Transformation gelingen kann, sondern helfen uns auch dabei, durch Höhen und Tiefen hindurch auf Kurs zu bleiben und die Orientierung zu behalten. Darüber hinaus verleihen Narrative unserem Transformationsvorhaben einen tieferen Sinn und mobilisieren Menschen, sich für diese Transformationsidee einzusetzen. Narrative bündeln also Kräfte und lassen uns als Teil einer großen Gemeinschaft fühlen, die sich für eine gemeinsame Sache engagiert.
  • Damit Narrative eben diese Wirkung erzielen können, braucht es vier Schritte: Zunächst muss definiert werden, was das Ziel der Veränderung ist, dann müssen Gegenspieler:innen identifiziert und anschließend Ressourcen und Stärken ermittelt werden, mit denen diese Gegenspieler:innen entkräftet werden können. Schließlich werden alle Informationen in Form eines Narrativs zusammengeführt.
  • Dabei wissen Gestalter:innen der Zukunft um die besondere Rolle der Gegenspieler:innen. Ihnen ist bewusst, dass Transformationsprozesse kein Automatismus sind und mit Widerständen zu rechnen ist. Daher nutzen Gestalter:innen der Zukunft das Minigolf-Narrativ als eine emotionale Hebelwirkung, um die persönliche Einsatzbereitschaft jedes und jeder Einzelnen zu mobilisieren. Sie besinnen sich auf ihre gemeinsamen Stärken und Ressourcen und setzen diese im Sinne der Transformationsidee ein. Mit dem Minigolf-Narrativ gelingt ihnen der Aufschwung in Richtung Zukunftsfähigkeit der Organisation.
  • Wohin wir uns als Unternehmen oder Gesellschaft in der Zukunft entwickeln, auf welchen Weg uns unsere Reise führt, wird durch die Narrative bestimmt, die wir uns heute und in diesen Tagen erzählen. Wen wir in unseren Geschichten als Mitglieder unseres Teams sehen oder als Gegenspieler:innen identifizieren, entscheidet darüber, welche Transformationen wir vollziehen können und welche nicht. Was wir heute über uns selbst berichten, woran wir glauben und zu welchem großen Ganzen wir uns zuordnen, bestimmt maßgeblich, in welcher Realität wir in der Zukunft leben werden. Gestalter:innen der Zukunft wählen daher ihre Narrative mit Bedacht und erzählen solche Geschichten, die uns unternehmerisch, gesellschaftlich und politisch in eine bessere Zukunft führen.

Zum Weiterdenken: Mein Brückenbau in die Zukunft der Arbeit

Welches Ziel verfolgen wir mit der Transformation?

Wer oder was könnte dieser Transformationsidee im Weg stehen, sie behindern oder vereiteln?

Mit welchen Stärken und Ressourcen können wir den Gegenspieler:innen entgegentreten?

Quellen

Baerbock, A. (2021). Facebook-Post vom 28.09.2021, von https://m.facebook.com/abaerbock/photos/a.3066275806985237/3113060222306795/

Emundts, C. (2021). Wie die FDP die Ampel lieben lernt. Abgerufen 15.10.21, von https://www.tagesschau.de/inland/btw21/sondierungen-fdp-101.html

Harari, Y. N. (2019). Eine kurze Geschichte der Menschheit. München: Deutsche Verlags-Anstalt.

Online Lexikon Psychologie und Pädagogik (2021). Narrativ. Abgerufen 16.10.2021, von https://lexikon.stangl.eu/28477/narrativ

Bildquellen: Alle Illustrationen aus diesem Blog stammen von Lena Bittrich und Carolin Meyer