Normal 2.0

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Endlich, endlich sind sie da, die lang ersehnten Öffnungen. Dank fortschreitenden Impfquoten und Schnelltests ist nun plötzlich wieder vieles möglich. Doch in die Freude mischt sich bei einigen unter uns auch Unbehagen und Angst. Angst vor den Menschenmengen, die plötzlich wieder aufeinander treffen im Büro, im öffentlichen Nahverkehr, im Fitnessstudio, im Restaurant, in der Fußgängerzone. Aber auch Angst davor, vielleicht nun das wieder hergeben zu müssen, was uns in den letzten Monaten möglicher Weise lieb und teuer geworden ist: Die Entschleunigung durch weniger Termine, die neu entdeckte Konzentration im Homeoffice, die ungeahnten Möglichkeiten zur Vereinbarung von Beruf und Familie. Dies alles wird seit kurzem unter dem Begriff Fear Of Going Out – kurz FOGO – zusammengefasst (Oelmann, 2021). Es meint den Stress, den der Gedanke an eine Rückkehr ins alte Normal auslösen kann.

Bemerkenswerter Weise gab es in der Zeit vor Corona ein gegenteiliges Stressphänomen. Die Angst, Dinge zu verpassen und nicht dabei zu sein, beim Meeting heute in München und der Kund:innenveranstaltung morgen in Hamburg, der angesagtesten Party, dem größten Megaevent, dem neuesten Superhype. Die eigene Wichtigkeit maß sich an der Anzahl von Terminen und geschäftlich viel unterwegs zu sein, war ein Zeichen für beruflichen Erfolg. Der soziale Vergleich spielte dabei eine große Rolle und selbstgepostete Statusmeldungen belegten, vorne mit dabei gewesen zu sein. Dieses Phänomen aus der Zeit des alten Normals nennt sich Fear Of Missing Out – kurz FOMO. Es bezeichnete die beständige Angst, den Anschluss an den Mainstream zu verpassen.

Natürlich hat weder FOMO noch FOGO jede:n von uns in vollem Umfang ergriffen. Dennoch könnte die Existenz dieser beiden Extreme ein Hinweis auf einen Wandel unserer Gewohnheiten darstellen. Das alte Normal und das, was wir zukünftig als Normal erachten werden, ist vielleicht nicht deckungsgleich. Das alte Normal in seiner bisherigen Form setzt wohlmöglich nicht den Maßstab für die Zukunft.

Doch woran liegt es, dass Ängste und Wünsche sich verändert haben, dass alte Regeln nicht mehr gelten? Wie gehen wir mit dieser veränderten Gefühlswelt um und was heißt das für die Gestaltung der Zukunft?

Das alte Normal und das, was wir zukünftig als Normal erachten werden, ist vielleicht nicht deckungsgleich. Das alte Normal in seiner bisherigen Form setzt wohlmöglich nicht den Maßstab für die Zukunft. 

Die Transformationswissenschaftlerin Maja Göpel geht davon aus, dass Gewohnheiten und Regeln, die sich in der Gesellschaft verfestigt haben, immer nur im Kontext der zu einem bestimmten Zeitpunkt geltenden Ordnung ihre Gültigkeit haben. In einer sich verändernden Welt jedoch lohne sich die Frage, ob die Voraussetzungen für diese Vorstellungen, Gewohnheiten und Regeln weiter Bestand haben oder aber inzwischen andere Bedingungen eingetreten sind, unter denen diese Regeln keine Gültigkeit mehr haben (Göpel, 2021).

Was wir aktuell also brauchen, ist eine Neusortierung und Auslese. Was vom Alten hat ausgedient und was an Neuem sollte stattdessen dauerhaft bleiben? Wie lassen sich vielleicht auch alte und neue Gewohnheiten miteinander neu kombinieren und welches innovative Konstrukt ergibt sich daraus? Das Nachdenken hierüber hat gerade erst – mit Beginn der neuen Öffnungsschritte – begonnen. Was also zukünftig normal ist, bildet sich vielleicht erst in diesen Tagen heraus. Wir alle sind daher möglicher Weise aktuell bei der Geburtsstunde von etwas Neuem dabei. Dem neuen Normal, dem Normal 2.0.

Wir können daher hier noch keine Antwort darauf geben, wie das neue Normal aussehen wird. Stattdessen wollen wir aber versuchen, Geburtshilfe für das Neue zu leisten und eine Idee davon zu geben, wie es gelingen kann, ein neues Normal zu finden, das besser zu der veränderten Wirklichkeit, der neuen Erfahrungslage und der neuen Werthaltung der Menschen passt. Wir stellen also die Frage:

Wie kann die Transformation des alten Normals in das Normal der Zukunft gelingen?

Verwenden wir zunächst eine Analogie aus einem ganz praktischen Lebensbereich: Das Ausmisten eines Kleiderschranks. Nach der KonMari-Methode (Kondo, 2019) funktioniert dies in drei Schritten:

  1. Räume zunächst deinen Kleiderschrank aus und staple deine gesamte Kleidung auf einem Haufen.
  2. Nimm anschließend jedes Teil einzeln in die Hand und frage dich: Macht mich das Kleidungsstück glücklich? Ist die Antwort ja, darf es bleiben. Bei nein kommt es in einen Karton und wird aussortiert.
  3. Finde für jedes Teil, das bleiben darf, einen festen Platz.

Ziel dieser Methode ist es, die Voraussetzungen für ein erfülltes Leben zu schaffen, in dem nur noch Dinge Platz finden, die einen wirklich glücklich machen.

Und was heißt das nun für die aktuelle Situation?

  1. Öffnen wir also zum Beispiel einmal den großen Schrank „Arbeit“ und stapeln dessen Inhalt vollständig auf einen großen Haufen: Arbeitszeitmodelle, Führungsmodelle, Belohnungsmodelle, Bezahlmodelle, Managementmaximen, …
  2. Betrachten wir nun jedes einzelne Teil in unserem großen Haufen „Arbeit“ genau. Nehmen wir z.B. die Nine-to-five-Regel und fragen uns: Macht uns die glücklich? Nein? Dann kann die weg, direkt in den Karton mit der Aufschrift „altes Normal“. Tja, aber was ist mit der Präsenskultur? Es ist ja eigentlich schon schön, die Kolleg:innen zu treffen, aber vielleicht nicht jeden Tag, vielleicht nur 2 Tage pro Woche. Aha, die Präsenskultur muss also in die Änderungsschneiderei zum Kürzen. Daher kommt dieses Teil direkt in eine weitere Kiste mit der Aufschrift „Änderungsschneiderei“. Und wie ist es mit der wöchentlichen Teamsitzung? Doch, die fühlt sich gut an. Die bleibt und kommt daher auf den neuen Stapel „Lieblingsstücke“, auf dem wir all das sammeln, das weiter gut zu uns passt und uns schon immer glücklich machte. So arbeiten wir uns weiter durch den gesamten Stapel.
  3. So, nun sind wir mit dem Aussortieren fertig. Jetzt geht es darum, Fakten zu schaffen: Wir schnappen uns den Karton mit der Aufschrift „altes Normal“, machen schnell ein Foto und schicken es unseren Kolleg:innen. „Ich habe aussortiert. Will jemand etwas davon noch haben, sonst schmeiße ich das jetzt weg!“ Dann greifen wir uns die Kiste für die Änderungsschneiderei, nehmen Maß und passen an. Eine abschließende Anprobe gibt uns Recht, das fühlt sich doch gleich viel besser an. Mit den frisch geänderten Teilen kehren wir zurück zu unserem Schrank und unserem kleinen Stapel mit den Lieblingsstücken. Diese und die geänderten Teile kommen zurück in den Schrank. Wunderbar, es bleibt sogar noch Raum für Neues. Da fällt uns die Kiste im Flur ein, in der wir in den Monaten der Pandemie all das verstaut haben, was uns neu lieb und teuer geworden ist: Ungestörtes Arbeiten, zeitsparende virtuelle Meetings, Konzentration, Spaziergang statt im Stau stehen, Mittagspause mit der Familie. Was uns in den letzten Monaten glücklich gemacht hat, gehört ebenfalls zu den Lieblingsstücke. So finden alte Teile, neue Teile und geänderte Teile nebeneinander Platz in unserem neu arrangierten Schrank der Arbeit. Wir werfen einen letzten Blick auf das Ergebnis unserer Auslese und spüren: Das ist gut.

Selber ein Statement zu setzen und sich dann mit den Statements anderer abzugleichen, ist der Prozess, den wir als Gesellschaft vollziehen müssen, um ein gemeinsames Verständnis über das Normal 2.0 zu finden.

Damit ist der erste Schritt auf dem Weg zum neuen Normal geglückt. Der zweite Schritt findet nun außerhalb unserer eigenen vier Wände statt. Dort präsentieren wir uns von nun an im neuen Look und werden damit vielleicht zum/zur Trendsetter:in für die Zukunft. Vielleicht werden wir aber auch noch weiter inspiriert durch das, was unsere Mitmenschen nach den langen Monaten als neue Styling-Ideen hervorzaubern. So bildet sich erst im Austausch mit anderen nach und nach ein neues Normal heraus, das Anerkennung und Akzeptanz in der Breite findet. Selber ein Statement zu setzen und sich dann mit den Statements anderer abzugleichen, ist der Prozess, den wir als Gesellschaft vollziehen müssen, um ein gemeinsames Verständnis über das Normal 2.0 zu finden.

Fassen wir zusammen, was wir für den Transformationsprozess des alten Normals in das Normal der Zukunft ganz konkret ableiten können:

  • Zahlreiche neue Erfahrungen während der langen Monate der Pandemie haben uns verändert. Das alte Normal scheint an vielen Stellen nicht mehr richtig zu passen. Gestalter:innen der Zukunft überdenken daher jetzt ihre Gewohnheiten. Sie trauen sich zu fragen, ob das bisherige Normal weiterhin Gültigkeit hat oder ob nicht neue Erfahrungen und Erkenntnisse ein neues Normal erfordern. Dafür ist es notwendig, alles Bestehende zur Diskussion zu stellen. Es gibt keine Tabus und keine Themen, die nicht verhandelt werden dürften.
  • Der neue Maßstab für die Zukunft ist das Wohl der Menschen. Welche Arbeits- und Lebensformen unterstützen uns in unserem Menschsein? Wie kann Arbeit glücklich machen und Erfüllung schenken? Wie gelingt ein gutes Leben? Beim Überprüfen alter Gewohnheiten lassen wir uns von dem leiten, was guttut. Wir sortieren konsequent aus oder ändern radikal ab. Nur was jetzt noch zu uns passt, behalten wir. Alles andere hat ausgedient.
  • Nach der Auslese entwickeln wir eine neue Ordnung, einen neuen Standpunkt, über das was wir zukünftig für gut, richtig und normal erachten. Wir designen unseren persönlichen Zukunftsstyle.
  • Was sich als das neue Normal, das Normal 2.0, durchsetzen wird, das legen wir jedoch nicht allein in unseren vier Wänden fest. Was Anerkennung, Bewunderung und Nachahmer:innen findet, entscheidet sich im öffentlichen Raum, da wo wir uns neu begegnen. Dafür müssen wir uns nach den langen Monaten nach draußen wagen und mutig Position beziehen. Das Normal 2.0 bildet sich nur im Austausch und in der Auseinandersetzung mit anderen heraus.

Zum Weiterdenken: Mein Brückenbau in die Zukunft der Arbeit

Welche Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Regeln und Werte in meiner Organisation gehören in die Kiste „altes Normal“?

Welche Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Regeln und Werte in meiner Organisation gehören in die Kiste „Änderungsschneiderei“?

Was sind neue und alte Lieblingsstücke?

Quellen

Göpel, M. (2021). Im Podcast von ZEIT und ZEIT ONLINE vom 12. Februar 2021. Das Politikteil/Klimawandel: Haben wir vor lauter Corona die Klimakrise vergessen? Abgerufen 04.06.2021, von https://www.zeit.de/politik/2021-02/klimawandel-maja-goepel-pandemie-prioritaet-vergessenheit-tatendrang

Kondo, M. (2019). Das große Magic-Cleaning-Buch: Über das Glück des Aufräumens (2. Auflage). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.

Oelmann, S. (2021). FOGO – Fear Of Going Out. Wenn die neue alte Normalität wiederkommt. n-tv.de. Abgerufen 03.06.2021, von https://www.n-tv.de/leben/Wenn-die-neue-alte-Normalitaet-wiederkommt-article22564338.html

Bildquellen: Alle Illustrationen aus diesem Blog stammen von Lena Bittrich und Carolin Meyer