"Oben ohne"

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„Bitte recht freundlich… und… cheeeeese“: Auf dem offiziellen Gruppenfoto des G7 Gipfels Ende Juni auf Schloss Elmau demonstrieren die sieben Staats- und Regierungschefs sowie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratschef Charles Michel neue Maßstäbe von Stil und Etikette: Keiner der Herren trägt eine Krawatte; Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verzichtet sogar auf das Sakko. Diese Lässigkeit spiegelt sich auch in der Körperhaltung wider: Kanadas Premierminister Justin Trudeau legt dem britischen Premier Boris Johnson und dem japanischen Ministerpräsidenten Fumio Kishida kumpelhaft die Arme über die Schulter. Johnson wiederum legt seinen Arm um Bundeskanzler Olaf Scholz. Der Anblick ist ein Novum auf der politischen Weltbühne.
Dass wir uns diesem Thema – dem neuen Dresscode und dem neuen Sozialgebaren auf dem G7 Gipfel – widmen, scheint neben den vielen gewichtigen Krisen und Herausforderungen wie Dürre, Krieg und ein drohender Gaslieferstopp erst einmal belanglos und als Nebensächlichkeit. Und doch lässt sich daraus ein Trend ableiten, der über die Politik hinaus in unsere Organisationen und Unternehmen reicht und sich seit einigen Jahren in der westlichen Arbeitswelt mehr und mehr durchsetzt. Dass dieser Trend nun auch auf dem G7 Gipfel sichtbar wird, könnte ein Hinweis dafür sein, dass endgültig eine neue Epoche über Authentizität und Nähe im Kontext von Zusammenarbeit angebrochen ist.
In unserem letzten Artikel vor der Sommerpause wollen wir daher diesen Trend ausleuchten und darstellen, welche unterschiedlichen Ausprägungen von „oben ohne“ und „Arm in Arm“ wir in unseren Unternehmen und Organisationen aktuell beobachten. Und wir wollen die Frage stellen, ob und wie diese Trends mit Transformation und New Work in Zusammenhang stehen.
Aktuell beobachten wir vor allem drei Phänomene, die sich mehr und mehr durchzusetzen scheinen:
1. Aufhebung alter Dresscodes:
Die Arbeit im Homeoffice hat die bisherige Norm der Bürokleidung endgültig verändert. Nach der Rückkehr aus dem Homeoffice, können sich nur noch zwei Prozent der im Büro Arbeitenden vorstellen, täglich Krawatte oder Halstuch anzulegen (BearingPoint, 2022). Das hybride Arbeiten bringt es automatisch mit sich, dass die Bedeutsamkeit des ehemaligen Bürooutfits abnimmt und das im Homeoffice getragene T-Shirt eine Aufwertung erfährt. Gibt es tatsächlich noch jemanden, der den per Videokonferenz zugeschalteten Kolleg:innen weniger fachliches Können zuspricht, weil sie ein authentisches Heimoutfit tragen? Kompetenz ist nicht länger an Anzüge, Krawatten und italienische Lederschuhe geknüpft. Auch im Kapuzen-Hoodie kann Höchstleistung erbracht werden. Das haben die Mitarbeitenden über die Pandemie ausreichend unter Beweis gestellt. Postpandemisch erscheint es erschreckend oberflächlich, das jemals in Frage gestellt zu haben. Was heute vor allem zählt, ist die Person selbst und das, was sie an inhaltlichem Beitrag leistet.
Was heute vor allem zählt, ist die Person selbst und das, was sie an inhaltlichem Beitrag leistet. Die Verpackung wird zur Nebensache.
Die Silicon-Valley-Vertreter:innen machen uns seit langem vor, dass Milliardendeals sich auch im T-Shirt verkünden lassen. Aber auch bei uns gab es bereits vor Corona Trends zu mehr „Casual im Business“. Die Haspa beispielsweise hatte bereits 2016 einen neuen Dresscode für die Mitarbeitenden festgelegt: Business Casual – Lässig schick. (Buerth, 2020) Auch Goldman Sachs, eine der weltweit führenden Investmentbanken, hatte 2019 die Pflicht zum Tragen von Anzug und Krawatte aufgehoben (Lockmaier, 2019). Und die FAZ hatte bereits 2019 über das drohende Ende der Krawatte berichtet (Schleidt, 2019). Äußerer Schein ist also offensichtlich hierzulande vielerorts nicht länger ein Symbol für Seriosität, sondern allenthalben als Verkleidung enttarnt. Der Trend ist eindeutig: Der Mensch rückt in den Vordergrund. Die Verpackung wird zur Nebensache.

Zahlreiche Beispiele zeigen: Titel, Rang und Amtsbezeichnungen verlieren in der Kommunikation zunehmend an Bedeutsamkeit. Menschen rücken sprachlich enger zusammen, um Aufgaben gemeinsam besser lösen zu können.
2. Duzkultur
Das Duzen im Arbeitskontext ist in Deutschland bereits seit einigen Jahren auf dem Vormarsch. Beim Ottokonzern hatte der Vorstandchef bereits im Jahr 2016 allen Mitarbeiter:innen das „Du“ angeboten (Spiegel, 2016). Bei der BMW Group in München wurde 2018 die Mitarbeiterinitiative #gernperDu ins Leben gerufen. Durch die Verwendung des Hashtags z.B. in der E-Mail-Signatur wird Kolleg:innen und Geschäftspartner:innen proaktiv und freiwillig das „Du“ angeboten. Eine Studie aus 2016 kam zum Ergebnis, dass bundesweit bereits ein Drittel aller Beschäftigten sämtliche Kolleg:innen und Vorgesetzte duzt (StepStone, 2016). Der Trend zum Duzen lässt sich auch in Workshops und Seminaren beobachten. Teilnehmende duzen sich meist direkt und ungefragt. Während der Pandemie war ein ähnlicher Trend zu beobachten: In Videokonferenzen verständigte man sich häufig der Einfachheit halber pauschal auf das „Du“.
Diese zahlreichen Beispiele zeigen: Titel, Rang und Amtsbezeichnungen verlieren in der Kommunikation zunehmend an Bedeutsamkeit. Menschen rücken sprachlich enger zusammen, um Aufgaben gemeinsam besser lösen zu können. Individuelles Ansehen verliert an Wichtigkeit, das „Wir“ und die gemeinsame Aufgabe stehen im Vordergrund. Zunehmend zählen weniger der akademische Grad oder die hierarchische Stufe, die jemand durch Verdienste in der Vergangenheit erreicht hat. Stattdessen kommt es mehr und mehr darauf an, welchen inhaltlichen Beitrag jemand jetzt, in diesem Moment konkret zu der zu lösenden, gemeinsamen Aufgabe leisten kann. In der Arbeitswelt von heute scheint sich dabei die Meinung durchzusetzen, dass es das Duzen braucht, um sich wirklich auf Augenhöhe zu begegnen und Krisen und große Aufgaben mit der Kraft aller gemeinsam zu lösen.
In der Arbeitswelt von heute scheint sich dabei die Meinung durchzusetzen, dass es das Duzen braucht, um sich wirklich auf Augenhöhe zu begegnen und Krisen und große Aufgaben mit der Kraft aller gemeinsam zu lösen.
3. Desk Sharing
Hybrides Arbeiten macht es überflüssig, jederzeit für alle Mitarbeitenden einen festen Arbeitsplatz vorzuhalten. Stattdessen sieht das Prinzip des Desk Sharings vor, dass ein Pool gleich ausgestatteter Arbeitsplätze vorgehalten wird, die man frei wählen kann, wenn man in Präsens im Büro arbeiten möchte. Neben Vorteilen der effizienten Nutzung vorhandener Raumressourcen bietet Desk Sharing gleichzeitig weitere Vorteile: Wer immer wieder an einem anderen Platz sitzt, knüpft ganz automatisch neue, soziale Verbindungen. Wenn alle Arbeitsplätze in gleicher Weise ausgestattet sind, ist das ein deutliches Indiz für Gleichberechtigung. Und wer morgens einen leeren Schreibtisch vorfindet und diesen abends auch wieder vollständig aufgeräumt verlassen muss, ist beim Arbeiten nachweislich produktiver. (Fichtel, 2022)

„Oben ohne“ und „Arm in Arm“ sind äußere Merkmale einer neuen inneren Haltung, die von Authentizität und Nähe in der Zusammenarbeit gekennzeichnet ist.
Gleichzeitig hat Desk Sharing revolutionäre Züge: Persönliche Trophäen des Lebens – wie gerahmte Abschlusszeugnisse und Firmenlaufpokale – haben in diesem Konzept keinen Raum mehr. Ebenso obsolet sind Markierungen von Hierarchie und Status in Form von Einzelbüros und großen Ledersesseln. Wir treffen uns an uniformen, nackten, funktionalen Schreibtischen. In Zeiten von Desk Sharing sind unsere Individualität und unser Standing nicht mehr durch äußere Statussymbole von außen sichtbar. Wer wir sind und was wir wert sind, müssen wir täglich neu demonstrieren und unter Beweis stellen: Durch die Qualität unseres Inputs in der Zusammenarbeit und durch unsere ganz persönliche Art, mit der wir anderen im direkten Kontakt begegnen.
In Zeiten von Desk Sharing sind unsere Individualität und unser Standing nicht mehr durch äußere Statussymbole von außen sichtbar. Wer wir sind und was wir wert sind, müssen wir täglich neu demonstrieren und unter Beweis stellen
Diese drei Phänomene sind – unserer Meinung nach - Ausdruck des neuen Zeitgeists von Authentizität und Nähe – von „oben ohne“ und „Arm in Arm“. Aber was hat das mit New Work zu tun?
New Work steht für ein neues Selbstverständnis der Arbeit, das auf flache Hierarchien, Kommunikation auf Augenhöhe und ernstgemeinte Beteiligung aller setzt. Wer das wirklich will, kommt nicht umhin, dies auch nach außen sichtbar zu machen. Denn was sollten Mitarbeitende denken, wenn ihr Chef – in Schlips und Kragen gekleidet in seinem Chefsessel sitzend – verkünden würde: „Sehr verehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ich möchte Ihnen mitteilen, dass wir ab sofort New Work in diesem Unternehmen praktizieren werden. Also geben Sie sich Mühe, dass alles gut läuft!“ Die Widersprüchlichkeit zwischen Worten und Taten könnte kaum größer sein. Wer New Work will, muss New Work in einen authentischen Rahmen setzen.
New Work steht für ein neues Selbstverständnis der Arbeit, das auf flache Hierarchien, Kommunikation auf Augenhöhe und ernstgemeinte Beteiligung aller setzt. Wer New Work will, muss New Work in einen authentischen Rahmen setzen.
Die Aufhebung alter Dresscodes sowie die Einführung von Duzkultur und Desk Sharing sind Teil eines solchen New Work Rahmens. Der Rahmen allein produziert aber noch kein New Work. Am Anfang steht also zunächst die Entscheidung für New Work – mit aller Konsequenz. Das bedeutet im Klartext: Flache Hierarchien, Kommunikation auf Augenhöhe und Beteiligung aller müssen gelebte Selbstverständlichkeit und gängige Praxis werden. Das ist für viele Unternehmen eine gewaltige Transformation. Wenn wir das aber wirklich wollen und uns für diesen Weg entscheiden, dann können wir diesen Prozess unterstützen und in Gang bringen, indem wir beispielsweise den Dresscode aufheben und Duzkultur und Desk Sharing etablieren. Damit setzen wir von Anfang an den richtigen Rahmen für die Prinzipien von New Work und geben ein sichtbares Zeichen, dass ein neues Zeitalter der Zusammenarbeit beginnt.

New Work steht für flache Hierarchien, Kommunikation auf Augenhöhe und ernstgemeinte Beteiligung. New Work verkörpert damit ein radikal neues Selbstverständnis der Arbeit.
Fassen wir zusammen:
- „Oben ohne“ und „Arm in Arm“ sind äußere Merkmale einer neuen inneren Haltung, die von Authentizität und Nähe in der Zusammenarbeit gekennzeichnet ist. Diese neue Haltung hat transformativen Charakter und markiert den Beginn einer neuen Epoche der Zusammenarbeit. In unseren Unternehmen und Organisationen beobachten wir aktuell konkret drei Phänomene, die diese neue Haltung sichtbar machen: (1) Aufhebung alter Dresscodes, (2) Einführung einer Duzkultur und in einigen Unternehmen auch bereits (3) die Etablierung von Desk Sharing. Gestalter:innen der Zukunft beteiligen sich an diesen Entwicklungen und werden damit Vorreiter:innen für die Zukunft der Arbeit.
- Alle drei Phänomene haben substantiellen Einfluss auf die Zusammenarbeit: Die Aufhebung alter Dresscodes rückt die Person in ihrer Echtheit in den Mittelpunkt. Damit verbunden sind neue Werte und Maßstäben, die wir zur Beurteilung und Einschätzung von Personen anlegen. Die Duzkultur schafft die notwendige Nähe, die wir für intensiven, schnellen Austausch brauchen: Wer von hierarchischen Prinzipien und formalen Gesten der Höflichkeit nicht blockiert wird, kommt schneller miteinander zum Ziel. Desk Sharing ist die radikalste Form sichtbar gewordener Neuerung. Sie bricht alte Ordnungen von Hierarchie und Sozialgefüge auf und schafft völlig neue Dynamiken und Verbindungen.
- Allen drei Phänomenen ist gemein, dass sie auf Gleichberechtigung setzen. Das passt gut zu den Prinzipien von New Work. New Work steht für flache Hierarchien, Kommunikation auf Augenhöhe und ernstgemeinte Beteiligung. New Work verkörpert damit ein radikal neues Selbstverständnis der Arbeit. Eine Entscheidung für New Work bedeutet daher echte Transformation der Zusammenarbeit.
- Diese Transformation hin zu New Work können wir unterstützen, wenn wir ihr den geeigneten Rahmen geben. Gestalter:innen der Zukunft schaffen daher jetzt einen transformationsfördernden Rahmen, indem sie all diejenigen Trends unterstützen und mit Leben füllen, die in Richtung „oben ohne“ und „Arm in Arm“ gehen, die also mehr Authentizität und Zusammenarbeit auf Augenhöhe versprechen.
Zum Weiterdenken: Mein Brückenbau in die Zukunft der Arbeit
Welche Ausprägungen von „oben ohne“ und „Arm in Arm“ gibt es in meiner Organisation?
Ist in meiner Organisation bereits das Bewusstsein vorhanden, dass New Work eine echte Transformation der Zusammenarbeit bedeutet?
Welchen Beitrag leiste ich ganz persönlich, um für diese Transformation den richtigen Rahmen zu setzen?
Quellen
BearingPoint (2022). Bürokleidung der Zukunft. Was trage ich morgen im Büro? Management Summary. Abgerufen 18.07.2022, von https://www.bearingpoint.com/files/Buerokleidung_der_Zukunft.pdf
Buerth A. (2020). Kulturwandel: New Work im Kleiderschrank.
Abgerufen 18.07.2022, von https://haspa-blog.de/challenge-yourself-and-build-your-brand-to-be-competitive/
Fichtel, J. (2022). Desk Sharing: Meiner, deiner, unser Arbeitsplatz. Abgerufen 18.07.2022, von
https://arbeits-abc.de/desk-sharing/
G7 Germany. Abgerufen am 18.07.2022, von https://www.g7germany.de/resource/image/2056968/16×9/266/150/36240cf5bb2d9c68e7e9b28bc60d1d0/QE/g7-informelles-gruppenfoto.jpg
Lochmaier, L. (2019). Chefsache Digitaler Wandel – Silicon Valley verändert Dresscode in der Finanzbranche. Abgerufen 18.07.2022, von https://www.geldinstitute.de/trends/2019/12/chefsache-digitaler-wandel—silicon-valley-veraendert-den-dress.html
Schleidt, D. (2019). Wirtschaftswelt im Wandel. Droht das Ende der Krawatte? Abgerufen 18.07.2022, von https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/die-banken-stellen-die-krawattenpflicht-fuer-mitarbeiter-frei-16172562.html
Spiegel (2020). Alle Otto-Mitarbeiter dürfen den Chef duzen Sagt einfach „Hos“ zu mir. Abgerufen 18.07.2022, von https://www.spiegel.de/karriere/duzen-im-buero-otto-group-chef-bietet-allen-mitarbeitern-das-du-an-a-1079540.html
Stepstone (2016). Deutsche Wirtschaft. Das „Sie“ stirbt langsam aus. Abgerufen 18.07.2022, von https://www.stepstone.de/ueber-stepstone/press/deutsche-wirtschaft-das-sie-stirbt-langsam-aus/
Mitarbeiterinitiative #gernperDu . Abgerufen 18.07.2022, von https://www.gernperdu.de/
Bildquellen: Alle Illustrationen aus diesem Blog stammen von Lena Bittrich und Carolin Meyer