Schlittenhundmission

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Heute fehlten 19 meiner 42 Mitarbeiter:innen“, berichtete eine befreundete Unternehmerin vor wenigen Tagen. „Bei uns startet jeder Tag mit einer Überraschung, wer heute fehlt und was wir mit den verbleibenden Leuten überhaupt produzieren können“, war kürzlich die Aussage eines Schichtleiters, der nach den aktuell größten Herausforderungen in seinem Berufsalltag gefragt war.

Diese beiden Einzelstimmen passen in den großen Trend: Die DAK meldet für das 1. Halbjahr 2022 deutlich mehr Krankmeldungen als im Vorjahr (DAK, 07/2022) und für das 3. Quartal nochmals einen ungewöhnlich hohen Krankenstand (DAK, 10/2022). Erkältungen spielen eine große Rolle. Aber vor allem psychische Erkrankungen erreichen das zweite Jahr in Folge neue Spitzenwerte (DAK, 10/2022), (DAK, 2021). Was ist da los? Kommen wir angesichts all der Unsicherheiten und Krisen, mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind, an die Grenzen unserer Gesundheit und Durchhaltekraft?

Kommen wir angesichts all der Unsicherheiten und Krisen, mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind, an die Grenzen unserer Gesundheit und Durchhaltekraft?

Wir wollen genauer hinschauen und Antworten auf die Fragen finden, wie wir uns in Zeiten von VUCA und Polykrisen zukunftssicherer aufstellen können und was entscheidende Faktoren sind, um Krisen körperlich und mental gesund durchzustehen und nachhaltig zu meistern.

Um diese Antworten zu finden, vollziehen wir einen kurzen Szenenwechsel. Wir befinden uns in Alaska, 1925. In der Stadt Nome erkrankt eine Gruppe von Goldgräbern an der Infektionskrankheit Diphtherie. Die überlebenswichtigen Medikamente befinden sich weit mehr als 1800 Kilometer weit weg. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Zwanzig Schlittenhunde haben eine Mission und vollbringen das bis dahin nicht für möglich Gehaltene: Sie überwinden eine lebensfeindliche Strecke über Eismeere und gefrorene Ebenen und bringen die heilenden Medikamente. Für diese Strecke braucht man normaler Weise drei Wochen. Die Schlittenhunde erreichten in nur fünfeinhalb Tagen ihr Ziel. Die Goldgräber konnten gerettet und die Krise abgewendet werden. Die Schlittenhundmission war erfolgreich. Eine unglaubliche Leistung unter extrem schwierigen Bedingungen. Wie war das möglich und was können wir daraus für die Krisen unserer Zeit lernen?

Der Schlüssel für diese Krisenfestigkeit der Schlittenhunde liegt in ihrer Resilienzfähigkeit. Sie weisen sowohl ein hohes Maß an Resilienz 1.0 als auch 2.0 auf.

Der Schlüssel für diese Krisenfestigkeit der Schlittenhunde liegt in ihrer Resilienzfähigkeit. Sie weisen sowohl ein hohes Maß an Resilienz 1.0 als auch 2.0 auf.

Dabei bezeichnet Resilienz 1.0 die Robustheit, also die Widerstandfähigkeit, mit der es gelingt, nach einer Störung in den Ursprungszustand zurückzukehren (auch „bounce back“ genannt). Demnach sind Schlittenhunde körperlich und mental in der Lage, der extremen Kälte und den außerordentlichen Strapazen eines langen Laufs Stand zu halten und sich anschließend davon wieder rückstandslos zu erholen. Schlittenhunde sind gleichzeitig aber auch sehr anpassungsfähig – zeichnen sich also durch Resilienz 2.0 aus. Sie besitzen die Fähigkeit, an der Krise zu wachsen, indem sie sich kontinuierlich an veränderte Umweltbedingungen adaptieren (auch „bounce forward“ genannt). Sie sind in der Lage, zusätzliche Kräfte über das normale Maß hinaus zu mobilisieren, wenn es die jeweilige Situation kurzfristig erfordert.

Während uns Resilienz 1.0 erlaubt, unsere Energieakkus immer wieder aufzuladen, können wir mit Resilienz 2.0 kurzfristig unseren Reserveakku aktivieren und zusätzliche Energie freisetzen.

Diese beiden Resilienzfaktoren – Robustheit in Kombination mit Anpassungsfähigkeit – versetzen Schlittenhunde also in die Lage, Krisen und Extreme gesund und kraftvoll durchzustehen.

So weit so gut, doch woher haben Schlittenhunde diese Fähigkeit zur Resilienz 1.0 und 2.0?

Es gibt zwei wesentliche Voraussetzungen, die dafür notwendig sind:

  • Zum einen benötigen Schlittenhunde ausreichende Regenerationszeiten, Pflege und Erholung nach einem Lauf; das heißt nach 6 Stunden Lauf folgt unter normalen Bedingungen 6 Stunden Pause (Welt, 2015).
  • Zum anderen haben Schlittenhunde ein extrem ausgeprägtes Sozialverhalten und brauchen den ständigen, engen Kontakt zum Rudel. Vereinzelung schwächt. (futalis GmbH, 2022)

Regelmäßige Regenerationszeiten und die Resonanz innerhalb der Gruppe sind entscheidende Resilienzfaktoren für das erfolgreiche Überwinden von zukünftigen Schlittenhundmissionen.

Achtsamkeit gegenüber dem Individuum und Resonanz innerhalb der Gruppe sind also von essentieller Bedeutung, damit eine Schlittenhundestaffel über sich hinauswachsen und eine Krise gelöst werden kann.

Doch was bedeutet das dann für unsere Arbeitswelt und die hohen Krankenstände? Kann es vielleicht sein, dass es uns in unserer aktuellen Welt an Achtsamkeit und Resonanz mangelt? Fehlen uns etwa die essentiellen Rahmenbedingungen, um für die VUKA-Welt und die Zeiten der Polykrise Resilienz aufbauen zu können?

Achtsamkeit gegenüber dem Individuum und Resonanz innerhalb der Gruppe sind also von essentieller Bedeutung, damit eine Schlittenhundestaffel über sich hinauswachsen und eine Krise gelöst werden kann.

Schauen wir einmal, wie es aktuell um uns und unsere Arbeitswelt bestellt ist: Ähnlich wie die Schlittenhunde auf unvorhersehbares und stürmisches Gelände treffen, haben auch wir es – mehr denn je zuvor – mit einer hochkomplexen, dynamischen und absolut unvorhersehbaren Welt zu tun (zukunftsInstitut, 2021). Doch leider trifft uns diese Zuspitzung ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem Viele sich ohnehin bereits seit längerem in einem vulnerablen Zustand der Überbeanspruchung befinden.

Seit Jahren ist die Arbeitsintensität hoch und lässt uns die Grenzen des Gesunden immer wieder übersteigen. (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2020). Der Arbeitsalltag ist gekennzeichnet von permanentem Termin- und Leistungsdruck und der Gleichzeitigkeit vieler unterschiedlicher Aufgaben. Digitale Kommunikations- und Kollaborationstools haben das Tempo unseres Tuns auf ein Maß emporgeschraubt, das wir kaum mehr durchhalten können. Wir überfordern uns gegenseitig mit unserer Erwartungshaltung an permanente Erreichbarkeit und beschleunigtes Antwortverhalten. Pausen und echte Erholung kommen zu kurz. (Markowetz, 2015)

Das Individuum erlebt die Notwendigkeit, in dieser Welt bestehen zu müssen, als permanente,“ diffuse psychische Last“ (zukunftsInstitut, 2021, S. 56). Im verzweifelten Versuch um Selbstoptimierung fahren wir die Ellenbogen aus und bemühen uns, die eigene Position im Wettbewerb gegen andere zu verteidigen. (zukunftsInstitut, 2021) Achtsamkeit mit sich selbst und in Resonanz mit anderen? Fehlanzeige. Wir haben Zustände geschaffen, in denen der Aufbau von Resilienz weitestgehend unmöglich ist.

Was müssen wir also tun, um aus diesem Schneegestöber heil herauszukommen?

  • Was für die Schlittenhunde Regenerationszeiten und Pausen sind, wollen wir an dieser Stelle noch etwas breiter unter dem Begriff Achtsamkeit zusammenfassen. Achtsamkeit ist der wichtigste menschliche Gegentrend zur Digitalisierung und zentrale Voraussetzung für individuelle Resilienz (zukunftsInstitut, 2021). Achtsamkeit bedeutet Raum für Ruhe, Erholung und Regeneration zu schaffen. Der Raubbau, den wir mit einem überhöhten Tempo und unserer Pausenlosigkeit über viele Jahre an uns betrieben haben, muss aufhören. Nicht die Möglichkeiten unserer digitalen Endgeräte sollten Tempo und Arbeitsrhythmus vorgeben, sondern die Möglichkeiten unserer menschlichen Gehirne. Ein achtsamer Arbeitstag hat daher Pausen und ein durchhaltbares Tempo, eine ungestörte, mehrstündige Fokuszeit und digitale Offline-Zeiten. (Zukunftsinstitut, 2021) Achtsamkeit heißt, im Alltag gesund und nachhaltig mit sich selbst umzugehen, damit im Falle einer Schlittenhundmission – einer plötzlichen Krise – noch ausreichend Kraftreserven zur Verfügung stehen.
  • Neben ausreichenden Regenerationszeiten brauchen wir engen Kontakt zu „unserem Rudel“, also die Resonanz mit anderen. Resonanz betont die Gemeinschaft, die Verbundenheit und das Gefühl von Zugehörigkeit. Statt also als Einzelkämpfer:in zu versuchen, sich durch Selbstoptimierung möglichst besser als andere an die widrigen Gegebenheiten anzupassen, bedeutet in Resonanz zu sein, gemeinsam nach einem besseren System zu suchen, das die Probleme grundsätzlich für alle löst und abstellt. Lösungen für alle zu suchen, heißt also nicht, danach zu fragen, was mir besonders hilft und das Leben erleichtert, sondern was uns als Gesamtgemeinschaft in der bestehenden Krise dient. Das Gebot der Stunde ist Wir-Kultur statt Ellenbogenmentalität sowie Solidarität statt Wettbewerb. (Zukunftsinstitut, 2021) Resonanz heißt, als Ganzheit zu agieren, als Teil einer gemeinsamen Schlittenhundmission, im Bewusstsein, dass keine:r von uns in der Krise allein bestehen kann. Vielleicht ist Resonanz damit genau das, was Bundeskanzler Scholz mit seinem vielzitierten „Unterhaken“ gemeint hat.

Wir haben Zustände geschaffen, in denen der Aufbau von Resilienz weitestgehend unmöglich ist. Achtsamkeit heißt, im Alltag gesund und nachhaltig mit sich selbst umzugehen, damit im Falle einer Schlittenhundmission – einer plötzlichen Krise – noch ausreichend Kraftreserven zur Verfügung stehen. Resonanz heißt, als Ganzheit zu agieren, als Teil einer gemeinsamen Schlittenhundmission, im Bewusstsein, dass keine:r von uns in der Krise allein bestehen kann.

Achtsamkeit und Resonanz gehören aktuell jedoch noch nicht zur Alltagsrealität in unseren Unternehmen und Organisationen, auch wenn es sicherlich vereinzelt positive Beispiele gibt. Das Ergebnis sehen wir aktuell überdeutlich, die Durchhaltekraft der Menschen ist endlich und bereits ausgeschöpft. Um Menschen jetzt und dauerhaft krisenfest zu machen, brauchen wir eine Transformation unseres Menschenbildes: Weg von den wettbewerbsorientierten, Zähne zusammenbeißenden, vermeintlich unkaputtbaren Einzelkämpfer:innen hin zu einer solidarischen, Emotionen anerkennenden, und nur in gegenseitiger Verbundenheit starken Co-Individualität.

Um Menschen jetzt und dauerhaft krisenfest zu machen, brauchen wir eine Transformation unseres Menschenbildes: Weg von den wettbewerbsorientierten, Zähne zusammenbeißenden, vermeintlich unkaputtbaren Einzelkämpfer:innen hin zu einer solidarischen, Emotionen anerkennenden, und nur in gegenseitiger Verbundenheit starken Co-Individualität.

Fassen wir zusammen:

  • Die Polykrise schafft ein nie dagewesenes Ausmaß an Unsicherheit, Komplexität und Dynamik. Die VUKA-Welt erreicht eine neue Dimension. Die Probleme sind vielschichtig und bergen ein neues Maß an Risikopotential, gegen das wir uns beruflich und privat stemmen müssen. Ohne ausreichende Resilienz ist die aktuelle Situation jedoch übermächtig. Wir sehen, dass zahlreiche Menschen bereits nicht mehr standhalten können.
  • Resilienz ist die entscheidende Ressource in Zeiten der Krise und damit eine wichtige Zukunftskompetenz. Wir unterscheiden Resilienz 1.0, die Robustheit, sich emotional und körperlich in Krisen stabil zu halten und Resilienz 2.0, die Anpassungsfähigkeit, sich an veränderte Bedingungen zu adaptieren. Beide Formen der Resilienz werden in der Krise gebraucht.
  • Voraussetzungen zum Aufbau von Resilienz sind Achtsamkeit mit sich selbst und Resonanz mit anderen. Wer gut durch eine Krise kommen will, muss darauf achten, mit den eigenen Kraftreserven vernünftig zu haushalten. Achtsamkeit heißt also, die Arbeitsintensität in einem gesunden und nachhaltigen Maß zu halten. Krisen lassen sich jedoch nicht allein mit Selbstoptimierung lösen. Zur Bewältigung von Krisen braucht es andere Menschen. Resonanz meint, sich ohne den hemmenden Gedanken gegenseitigen Wettbewerbs mit anderen zu einer auf gegenseitige Unterstützung ausgerichteten Gemeinschaft zu verbinden.
  • Weder Achtsamkeit noch Resonanz sind jedoch in ausreichendem Maß Teil unserer aktuellen Arbeitswirklichkeiten. Gestalter:innen der Zukunft bauen daher jetzt die Arbeitswelt um und schaffen resilienzfördernde Umstände. Sie setzen sich dafür ein, unser Menschenbild – unser Bild von uns selbst – zu transformieren: Einzelkämpfer:innentum war gestern. Das neue Leitbild ist die Schlittenhundmission, die über sich hinauswachsende Gemeinschaft, stark durch gegenseitige Verbundenheit, solidarisch miteinander, anerkennend, dass die Krise für niemanden allein bewältigbar ist.

Zum Weiterdenken: Mein Brückenbau in die Zukunft der Arbeit

Wie anpassungsfähig und robust sind wir bereits als Organisation?

Inwieweit trage ich zur Stärkung unserer Resilienzfähigkeit durch Achtsamkeit bei?

Inwieweit trage ich zur Stärkung unserer Resilienzfähigkeit durch ein starkes, solidarisches Miteinander bei?

Quellen

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2020: Stressreport Deutschland 2019: Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden. Abgerufen 25.10.2022, von https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Stressreport-2019.html

DAK (07/2022). 1. Halbjahr 2022: Beschäftigte melden sich häufiger krank. Abgerufen 25.10.2022, von
https://www.dak.de/dak/bundesthemen/krankenstand-im-1–halbjahr-2022-steigt-2566986.html#/

DAK (10/2022). Ungewöhnlich hoher Krankenstand im 3. Quartal 2022. Abgerufen 25.10.2022, von https://www.dak.de/dak/bundesthemen/ungewoehnlich-hoher-krankenstand-im-dritten-quartal-2022-2580942.html#/

DAK (2021)2. Psychreport 2022. Neuer Höchststand bei psychischen Erkrankungen in 2021. Abgerufen 25.10.2022, von https://www.dak.de/dak/bundesthemen/psychreport-2022-2533048.html#/


futalis GmbH (2022). Schlittenhunde. Abgerufen 25.10.2022, von https://futalis.de/hunderatgeber/hunderassen/schlittenhunde

Markowetz, A. (2015). Digitaler Burnout. Warum unsere permanente Smartphone-Nutzung gefährlich ist. München: Droemer Knaur GmbH & Co. KG

Welt (2015). Iditarod ist das härteste Schlittenrennen der Welt. Abgerufen, 25.10.2022, von https://www.welt.de/reise/Fern/article138226489/Iditarod-ist-das-haerteste-Schlittenrennen-der-Welt.html

zukunftsInstitut (2021). Trendstudie Zukunftskraft Resilienz. Gewappnet für die Zeit der Krisen

Bildquellen: Alle Illustrationen aus diesem Blog stammen von Lena Bittrich und Carolin Meyer

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