Schmetterlingswelten

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Inflation, Rezession, Gasmangellage, Blackout – das sind die düsteren Szenarien, die Politik und Gesellschaft für den anstehenden Herbst und Winter fürchten. Die Stimmung ist schlecht und die Gedanken an die kommende Zeit häufig angstvoll und bedrückend. Mit Hoffnung in die Zukunft blicken? Das fällt uns in Anbetracht der aktuellen Nachrichtenlage zunehmend schwer. Unsere bisherige Welt scheint an ihre Grenzen zu stoßen.
Erlauben wir uns aber doch einmal – für einen kurzen Moment – diese negativen Vorstellungen beiseite zu schieben. Was wäre denn, wenn sich unsere Welt, die Zustände, unter denen wir gerade leben, die zahlreichen Krisen – wie auch immer – zum Guten wandeln würden? Wie könnte unsere Welt dann aussehen? Vielleicht so, wie im folgenden Szenario? „Die Stadt ist voller Gemeinschaftsgärten und auf jedem Dach befinden sich Solaranlagen. Der motorisierte Verkehr hat sich so stark verringert, dass das Vogelgezwitscher wieder allgegenwärtig ist. In den Gebäuden der ehemals großen Supermärkte und Einkaufszentren finden sich jetzt lokale Lebensmittelhersteller und Kleinbetriebe. […] Für alle Arbeitenden gilt die Drei-Tage-Woche, die das allgemeine Stresslevel deutlich gesenkt hat und es den Menschen ermöglicht, sich vermehrt in Gemeindeprojekten zu engagieren.“ (Hopkins, 2021)
Was wäre denn, wenn sich unsere Welt, die Zustände, unter denen wir gerade leben, die zahlreichen Krisen – wie auch immer – zum Guten wandeln würden?
Zugegeben, das ist ein utopisches Bild, ein Bild einer transformierten Wirklichkeit. Aber ist dieses Bild wirklich zu schön, um wahr werden zu können? Können wir Menschen, mit unserem Erfindungsgeist und unserer Kreativität nicht Wege finden, eine derart positive Zukunft zu schaffen? Müssen wir uns wirklich damit abfinden, dass die Zukunft düster ist und bleibt? Oder können wir unsere kreative Gestaltungsfähigkeit ausbauen und transformierende Kräfte in Gang setzen, um eine neue, bessere Zukunft zu schaffen?
Wir möchten diesem Artikel das große Thema Transformation widmen und zwei entscheidende Fragen stellen: (1) Was genau ist eigentlich Transformation und (2) wie entstehen transformative Ideen?
Die Transformation eröffnet also neue Lebensräume, und erweiterte Möglichkeiten jenseits des bestehenden Rahmens. Das setzt jedoch einen konzeptionellen und grundsätzlichen Wandel voraus.
Für das Phänomen der Transformation bietet die Natur uns eine sehr einprägsame Metapher, die den meisten von uns von klein auf bekannt sein sollte. In dem Kinderbuchbestseller „Die kleine Raupe Nimmersatt“ von Eric Carle erleben wir, wie sich eine kleine Raupe in einen großen, bunten Schmetterling verwandelt. Diese Verwandlung ist der Inbegriff einer Transformation. Das ursprüngliche Wesen „Raupe“ verwandelt sich in einen Schmetterling und geht vollständig in diesem auf. Diese Verwandlung bietet große Vorteile, denn der Schmetterling kann nun ganz andere Lebensräume bevölkern, als es der Raupe zuvor möglich war. Die Transformation eröffnet also neue Lebensräume, und erweiterte Möglichkeiten jenseits des bestehenden Rahmens. Das setzt jedoch einen konzeptionellen und grundsätzlichen Wandel voraus.

Die Raupenwelt – Das bisherige Konzept unserer Welt, das Spektrum der bisher vorstellbaren Möglichkeiten
Die Natur liefert uns aber auch zahlreiche Beispiele, bei denen sich Lebewesen zwar ebenfalls verändern, jedoch nicht in dieser grundsätzlichen, konzeptionellen Art wie bei einer Transformation. Wenn sich beispielsweise über Prozesse der natürlichen Selektion bei einer Raupensorte einzelne Eigenschaften, wie z.B. die Farbe, verändern, dann handelt es sich dabei lediglich um eine Optimierung. Das Konzept der Raupe bleibt aber unberührt. Hatten wir vorher eine für Fressfeinde gut sichtbare bunte Raupe, überleben langfristig eher diejenigen Exemplare, die auf Blättern und Zweigen weniger gut sichtbar sind. Mit der Zeit bildet sich dann diese neue, vorteilhafte Eigenschaft heraus und die Raupen, die sich durchsetzen, sind eher grün oder braun. Das ändert aber nichts daran, dass es sich weiterhin um eine Raupe handelt, die in den wesentlichen Merkmalen einer Raupe gleicht und lediglich die Farbschattierung für die äußeren Rahmenbedingungen optimiert hat.

Optimierung – Wir haben uns von einer bunten in eine grüne Raupe weiterentwickelt
Es ist wichtig, den Unterschied zwischen Transformation und Optimierung zu verstehen. Betrachten wir die zahlreichen, mit Ehrgeiz verfolgten Vorhaben unserer Zeit, dann müssen wir nämlich feststellen, dass wir es dabei selten mit echter Transformation zu tun haben.
Nehmen wir als Beispiel das E-Auto. Das E-Auto hat als entscheidenden Unterschied zum herkömmlichen Verbrenner eine umweltfreundlichere Antriebstechnik, ansonsten ändert sich von der Grundidee des Autofahrens nichts. Das grundsätzliche Konzept der Fortbewegung bleibt unangetastet: Das individuelle Fahrerlebnis, bleibt zentrales Element, die Fahrer:in ist handelnde:r Akteur:in, das eigene Auto bleibt Livestyle-Element und Ausdruck von Freiheit und Persönlichkeit.
Nehmen wir als weiteres Beispiel die Umstellung auf Windkraft. Solange in unserer Vorstellung „Strom aus der Steckdose kommt“ und wir diesen von einem externen Energieerzeuger – welchen Ursprungs auch immer – beziehen, bleibt auch hier das bisherige Konzept der Energieversorgung unangetastet. Ein Oligopol von Anbietern liefert den Strom gegen ein entsprechendes Entgelt an Industrie und Privathaushalte.
Nehmen wir als letztes Beispiel das hybride Arbeiten. Die Digitalisierung mit ihren vielfältigen Möglichkeiten der virtuellen Zusammenarbeit macht es möglich, dass Mitarbeiter:innen im Wechsel entweder in Präsenz oder remote arbeiten. Das macht die Vereinbarkeit von Beruf und Familie leichter und schont die Umwelt durch weniger Berufsverkehr. Das ändert aber nichts an dem grundsätzlichen Konzept von Arbeit, reduziert nicht den teils sehr hohen Workload und hat aktuelle Probleme, wie die mangelnde Konzentrationsfähigkeit in Folge permanenter Erreichbarkeit, durch die Einführung digitaler Kollaborationstools eher noch erhöht.
Betrachten wir die zahlreichen, mit Ehrgeiz verfolgten Vorhaben unserer Zeit, dann müssen wir nämlich feststellen, dass wir es dabei selten mit echter Transformation zu tun haben.
Trotz der zweifelsohne immensen Leistung von Ingenieur:innen, die mit ihrem Erfindungsgeist beeindruckende Alternativen für umweltfreundlichere Antriebstechnik, Energieversorgung und digitale Zusammenarbeit geschaffen haben, handelt es sich hierbei lediglich um Substitute, die im Rahmen unserer bisherigen Welt eine Optimierung darstellen. Das sind gute Entwicklungen, eine transformative Weiterentwicklung des/der Einzelnen oder der Gesellschaft ist das aber noch nicht. Das bisherige Konzept unserer Welt, das Spektrum der bisher vorstellbaren Möglichkeiten – unseren Rahmen – haben wir mit diesen Alternativen nicht erweitert. Wir haben uns nur innerhalb unserer bisherigen Welt optimiert: Wir haben uns von einer bunten in eine grüne Raupe weiterentwickelt.
Aber wie kommen wir denn von der Raupenwelt in die Schmetterlingswelt? Wie entstehen neue, transformative Ideen?
Um transformative Ideen zu entwickeln, brauchen wir ein positives, imaginatives Denken (Hopkins, 2021). Die transformative Zukunftsfrage lautet daher: Was wäre, wenn uns eine utopische Wende gelingen würde? Wie sähe ein konsequent positiv gedachtes Szenario in der Schmetterlingswelt aus?
Wagen wir hier doch einmal für die drei oben genannten Themenfelder ein transformatives Gedankenspiel. Was wäre, wenn uns eine utopische Wende im Bereich Mobilität, Energieversorgung und Arbeit gelingen würde?
Die transformative Zukunftsfrage lautet daher: Was wäre, wenn uns eine utopische Wende gelingen würde? Wie sähe ein konsequent positiv gedachtes Szenario in der Schmetterlings-
welt aus?
Mobilität: Autonomes Fahren schenkt den Menschen maximale Bewegungsfreiheit und Zeit zum Lesen, Träumen, Ausruhen. Der Verkehr fließt flüssig und zügig dank intelligenter und automatisierter Verkehrsführung. Fußgänger:innen, Fahrräder und autonome Fahrzeuge prägen das Straßenbild. Die Luft ist sauber, denn emissionsfreie Fortbewegung ist zum Standard geworden. Fortbewegung ist leise, bezahlbar und zuverlässig. Jede:r kommt pünktlich und entspannt ans Ziel.
Energieversorgung: Es gibt nur noch saubere, regenerative Energie. Grüner Wasserstoff lässt sich dank exzellenter Entwicklungsfortschritte im großen Stil zu fairen Preisen erzeugen und hat die Klimawende möglich gemacht. Privathaushalte sind durch eigene Wind- und Solaranlagen weitestgehend energieneutral und energieautark. Abhängigkeiten von Energieriesen gehören der Vergangenheit an. Alle Akteure im Energiesektor fühlen sich strengen moralisch-ethischen Standards und dem Wohl der Gesellschaft verpflichtet.
Arbeit: Die Digitalisierung nimmt den Menschen viel Arbeit ab und verschafft zeitliche und geistige Freiräume. Die 3-Tage-Woche ist neuer Standard. Dadurch ist der Stresslevel enorm gesunken. Die Menschen können nicht nur Beruf und Familie mühelos vereinbaren. Es bleibt auch noch viel Raum für soziales Engagement, eine gesunde Lebensführung und kreative Betätigung. Alle Unternehmen garantieren täglich eine mehrstündige Fokuszeit, in der vertieftes, ungestörtes und produktives Arbeiten möglich ist. Die geistige Gesunderhaltung und der achtsame Umgang miteinander hat in der Arbeitswelt oberste Priorität.

Die Transformation von der Raupenwelt in die Schmetterlingswelt
Das ist absolut utopisch und unrealistisch? Natürlich, denn die Transformation hat ja noch gar nicht stattgefunden. Wir befinden uns aktuell noch in der Raupenwelt und aus dieser Perspektive erscheint das Leben als Schmetterling jenseits des Vorstellbaren. Das aber ist ja genau der springende Punkt. Die alte Welt hat mit der neuen Welt herzlich wenig zu tun, denn die neue Welt befindet sich außerhalb des bisherigen Rahmens und außerhalb des bisher vorstellbaren Spektrums der Möglichkeiten. Wer jedoch echte Transformation will, der/die darf sich davon nicht erschrecken lassen. Wer ein Schmetterling sein will, darf sich nicht davon blockieren lassen, aktuell (noch) keine Flügel zu haben. Wer ein Schmetterling sein will, wird sich Flügel wachsen lassen müssen. Transformation bedeutet also, sich konsequent von dem leiten zu lassen, was sein soll und nicht von dem, was ist oder war. Nur so werden Lösungen außerhalb des bestehenden Rahmens möglich. Nur so können wir die Raupenwelt verlassen und in die Schmetterlingswelt gelangen.
Transformation bedeutet also, sich konsequent von dem leiten zu lassen, was sein soll und nicht von dem, was ist oder war. Nur so werden Lösungen außerhalb des bestehenden Rahmens möglich. Nur so können wir die Raupenwelt verlassen und in die Schmetterlings-
welt gelangen.
Fassen wir zusammen:
- Die zahlreichen, aktuellen Krisen führen uns die Grenzen unserer bisherigen Welt vor Augen. Für die multiplen und teils interdependenten Probleme sehen wir keine echten, durchschlagenden Lösungen. Angst vor der Zukunft macht sich breit, denn die Optimierungsmöglichkeiten innerhalb des bestehenden Rahmens scheinen bereits weitestgehend ausgeschöpft.
- Viele der mit großem Einsatz verfolgten Vorhaben unserer Zeit sind unter transformativen Maßstäben noch nicht weitreichend genug. Sie stellen zwar signifikante Verbesserungen in einzelnen Aspekten dar, berühren aber nicht das konzeptionelle Gefüge unserer bisherigen Welt. Damit bleiben uns zahlreiche Möglichkeiten verschlossen. Wollen wir uns als Einzelne:r und Gesellschaft weiterentwickeln, kommen wir nicht umhin, eine imaginative Vorstellung über Möglichkeiten jenseits des bisherigen Rahmens zu generieren.
- Ein konsequent positiv gedachtes, transformatives Zukunftsszenario wirkt jedoch zunächst utopisch, weil es ein Bild außerhalb des bisherigen Spektrums an Möglichkeiten zeichnet. Das darf uns nicht erschrecken, denn Transformation bedeutet ja gerade, in neue, bessere Welten vorzudringen, die uns mit unseren bisherigen Vorstellungen verschlossen blieben. Die Zukunftsfrage lautet daher: Was wäre, wenn uns eine utopische Wende in eine bessere Zukunft gelingen würde? Welches überaus attraktive Szenario würde uns in einer transformierten Schmetterlingswelt erwarten?
- In Zeiten, in denen die Angst über die Zukunft in weiten Teilen der Bevölkerung wächst, müssen wir uns positive, leuchtende Geschichten über eine gelingende Zukunft erzählen. Wir dürfen uns dabei nicht abschrecken lassen, von denjenigen, die diese Geschichten als idealisiertes Wunschdenken abtun. Vielmehr sollten wir uns daran erinnern, dass Not seit jeher erfinderisch gemacht und die Kreativität angeregt hat. Wir sind nicht verdammt, für immer in der Raupenwelt zu bleiben. Wir dürfen und können Lösungen für Zukunft außerhalb unseres bisherigen Rahmens finden. Wir dürfen uns aufmachen, auf die Reise in die Schmetterlingswelt. Gestalter:innen der Zukunft erzählen daher mutig und unbeirrt positive, transformative Geschichten über eine andere, bessere Welt.
Zum Weiterdenken: Mein Brückenbau in die Zukunft der Arbeit
Nehme ich Krisen überwiegend mit Angst und als unüberwindbare Probleme wahr oder als Chance, aus denen Innovationen wachsen?
Wann bin ich das letzte Mal (unbemerkt) mit der Schmetterlingswelt in Kontakt gekommen und wie habe ich darauf reagiert?
Zu welchen Anteilen wird in unserer Organisation optimiert (Raupenwelt) bzw. transformiert (Schmetterlingswelt)?
Quellen
Hopkins, R. (2021). Stell dir vor … Mit Mut und Fantasie die Welt verändern. Löwenzahn in der Studienverlag GmbH
Bildquellen: Alle Illustrationen aus diesem Blog stammen von Lena Bittrich und Carolin Meyer