Sicherheitsnetz

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Erfreuliche Entwicklungen dürfen wir dieser Tage in Bezug auf das Pandemiegeschehen in Deutschland beobachten. Die dritte Welle scheint gebrochen, die Inzidenzzahlen gehen runter, während die Impfquote steigt. Erste Lockerungen werden nun für Geimpfte, Genesene und Getestete möglich. Das lässt aufatmen.
Während die Situation in der Sache also langsam eine Entspannung erfährt, tritt jedoch an anderer Stelle eine neue Verunsicherung zutage. Wo wieder mehr geht, muss zunächst ein Konsens über neue Gepflogenheiten gefunden werden. Dürfen wir Freund:innen bitten, sich zu testen, bevor wir uns treffen? Können wir uns öffentlich freuen, falls wir eine Impfpriorität haben? Dürfen wir umgekehrt neidisch sein, falls wir beim Impfen erst ganz hinten dran sind? Müssen wir Rücksicht nehmen auf Leute, die sich gar nicht impfen lassen wollen? Dürfen sich zwei geimpfte Freund:innnen wieder zur Begrüßung in den Arm nehmen?
Während die Unsicherheit des Pandemiegeschehens also abnimmt, sind in der nächsten Phase neue Unsicherheiten in den Beziehungen zu unseren Mitmenschen möglich und Vertrauen könnte auf ungewohnte Weise auf die Probe gestellt werden.
Am Beispiel der Politik erleben wir aktuell gerade, welch beträchtliche Auswirkungen zwischenmenschliche Unsicherheit auf die Art der Zusammenarbeit haben kann. Hatten die Ministerpräsident:innen sich bislang in monatlichen Abständen beraten und auf Basis der jeweils aktuellen Situation gemeinsam die nächsten Schritte für die kommenden Wochen festgelegt, lieferte diese Arbeitsweise seit einiger Zeit immer weniger Lösungen, die von allen mitgetragen wurden. Dabei entsprach dieses iterative Vorgehen doch eigentlich ganz dem Prinzip agilen Arbeitens, das Mittel der Wahl in komplexen Situationen wie der Corona-Pandemie ist.
Doch mit Beginn der Landtagswahlen und den Machtkämpfen um die Kanzlerkandidaten der Union schien die Einigungsfähigkeit zu sinken. Im Ergebnis entstand der vielzitierte Flickenteppich an Maßnahmen und Regeln. Mit der Einführung der Bundesnotbremse hat die Bundeskanzlerin nun das gemeinsame, agile Vorgehen aufgegeben und sich stattdessen für eine zentrale Steuerung entschieden.
Doch was hat die Bundesnotbremse mit zwischenmenschlicher Unsicherheit zu tun? Warum kam das bisherige Vorgehen an seine Grenzen? Und wie steht das alles im Zusammenhang mit unseren täglichen Unsicherheiten in der Gesellschaft? Diesen und weiteren Fragen wollen wir uns in diesem Artikel widmen und daraus ableiten, welche Parallelen und Lehren sich daraus für agiles Arbeiten ziehen lassen.
Hierfür müssen wir zunächst einen Blick auf eine wichtige menschliche Eigenheit richten. Bei uns Menschen besteht das uralte und tief verwurzelte Bedürfnis, dass andere gut über uns denken, insbesondere, wenn diese in der Hierarchie über uns stehen. Die Bedeutung dieses Fakts wird im Konzept der psychologischen Sicherheit beschrieben.
Demnach hat die psychologische Sicherheit Auswirkungen auf unsere Bereitschaft, uns in Gruppen oder Teams mit Ideen und kritischen Anmerkungen einzubringen. Ist die psychologische Sicherheit hoch, trauen sich die Beteiligten, auch halbfertige Ideen zu teilen und kritische Themen oder Bedenken anzusprechen, weil ihnen dadurch keine persönlichen Nachteile drohen. Befürchtet eine Person hingegen, mit ihrem Beitrag ein schlechtes Bild vor der Gruppe abzugeben oder persönlich ins Abseits zu geraten, schweigt sie lieber, um eine Blamage oder andere Nachteile zu vermeiden.
Sich in einer Gruppe zu äußern, ist daher nicht selten mit einem Tanz auf einem Drahtseil zu vergleichen. Es stellt immer ein Risiko dar. Psychologische Sicherheit federt dieses Risiko wie ein Netz ab.
Ist die psychologische Sicherheit hoch, trauen sich die Beteiligten, auch halbfertige Ideen zu teilen und kritische Themen oder Bedenken anzusprechen, weil ihnen dadurch keine persönlichen Nachteile drohen.
Doch aus welchem Material wird dieses Netz der psychologischen Sicherheit gewebt?
Psychologische Sicherheit setzt sich aus all dem zusammen, was dazu beiträgt, dass sich ein Individuum angstfrei gegenüber seinen Mitmenschen äußern kann. Dazu gehören:
- die Freiheit, auch unfertige und noch nicht vollständig geprüfte Ideen zu teilen,
- die Freiheit, Bedenken und kritische Einwände zu äußern,
- die Freiheit, Dinge nicht zu wissen und um Hilfe und Unterstützung zu bitten,
- die Gewissheit, bedingungslose Wertschätzung zu genießen und
- die Gewissheit, keine Nachteile dadurch zu haben, einen Fehler zuzugeben oder auf einen Fehler aufmerksam zu machen.
Das Material, aus dem das Netz der psychologischen Sicherheit gewebt wird, spinnt das Team also selbst. Damit entsteht eine Kultur, in der es normal ist, Unterstützung zu erbitten, zu geben und anzunehmen, in der Offenheit für Ideen und Einwände besteht und in der es eine unerschütterliche Ja-Haltung zu den Menschen und ihren Fehlern gibt. Damit erschafft psychologische Sicherheit eine „angstfreie Organisation“ (Edmondson, 2020).

Psychologische Sicherheit setzt sich aus all dem zusammen, was dazu beiträgt, dass sich ein Individuum angstfrei gegenüber seinen Mitmenschen äußern kann.
Dadurch wird es möglich, gedankliche Experimente zu wagen – also mit innovativen Ideen zu jonglieren. Wer dabei ins Straucheln gerät, kann gewiss sein, wohlbehalten im Netz der psychologischen Sicherheit aufgefangen zu werden. Das macht mutig: Wer gewiss ist, weich zu fallen, traut sich mehr zu, wächst über sich hinaus und kann eine Leistung vollbringen, die ohne diese Sicherheit nicht möglich wäre.
Eine Studie bei Google (Stübig-Schimanski, 2016) stellte heraus, dass keine andere Einflussgröße Teamleistung mehr beeinflusst als die psychologische Sicherheit. Teams mit hoher psychologischer Sicherheit haben demnach eine wesentlich höhere Teamleistung als Teams mit einer niedrigen psychologischen Sicherheit.
Das liegt daran, dass die psychologische Sicherheit zwei entscheidende Voraussetzungen liefert: Zum einen führt sie dazu, dass innovative Ideen überhaupt offen kommuniziert und probiert werden. Zum anderen schafft sie eine Kultur, in der Feedback zu diesen Ideen in ehrlicher Weise möglich ist und Probleme, Fehler oder Misserfolge miteinander geteilt werden und als gemeinsame Lernerfahrung genutzt werden.

Wer gewiss ist, weich zu fallen, traut sich mehr zu, wächst über sich hinaus und kann eine Leistung vollbringen, die ohne diese Sicherheit nicht möglich wäre.
Teameffektivität ist also weniger von der Qualifikation und oder den Persönlichkeitsmerkmalen einzelner Personen im Team abhängig, sondern vielmehr von der Art und Weise, wie diese Personen zusammenarbeiten und welche Kommunikationskultur im Team herrscht. Psychologische Sicherheit ist daher nicht allein ein Wohlfühlfaktor, sondern entscheidende Voraussetzung für eine überdurchschnittliche Innovations- und Leistungsfähigkeit. Nur wer psychologische Sicherheit verspürt, ist zu Experimenten und Kunsttücken auf dem Drahtseil bereit. Nur wer psychologische Sicherheit verspürt, kann Fehler zugeben und Lerneffekte zur Verbesserung seiner Idee erzielen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel lieferte vor wenigen Wochen ein beeindruckendes Beispiel psychologischer Sicherheit. Mit ihrer Entschuldigung für den unpraktikablen Vorschlag der verlängerten Osterruhe hat sie einen Fehler zugegeben und damit den Weg für eine andere, neue Lösung bereitet. Die Überraschung über diesen Akt war groß und der Respekt, den man ihr zollte, umso größer. Das persönliche Netz psychologischer Sicherheit der Bundeskanzlerin hat funktioniert.
Wo ständen wir heute, wäre dies anders gewesen und hätte sie den Fehler nicht korrigieren können, ohne dabei ihr Amt zu riskieren? Wo ständen wir heute, hätte sie an dem ursprünglichen Beschluss festhalten müssen, weil es kein Netz psychologischer Sicherheit gegeben hätte?
Ohne psychologische Sicherheit herrscht ein Klima der Angst. Experimente auf dem Drahtseil wären immer mit der Gefahr des persönlichen Absturzes verbunden. Fehler und Probleme würden verborgen bleiben und diejenigen, die sie bemerkten, würden versuchen, sie versteckt zu halten, um persönliche Nachteile zu vermeiden. In einer solchen Kultur bewegt jede:r sich nur entlang der vermeintlich gängigen Norm, weil jedes Abweichen davon einen Absturz ins Ungewisse zur Folge haben könnte. Fehlende psychologische Sicherheit bedeutet nämlich nicht nur, kein Sicherheitsnetz unter sich zu wissen, sondern über einem brennenden Abgrund zu balancieren. Ein Fehltritt wäre dramatisch und das macht Angst. Angst jedoch verhindert Innovation, Erfindergeist und Kreativität.
Psychologische Unsicherheit entsteht immer dann, wenn wir uns in einer Wettbewerbs- oder Konkurrenzsituation behaupten müssen oder wenn für uns wichtige persönliche Beziehungen auf dem Spiel stehen. In diesen Fällen brennt der Abgrund und ein Straucheln auf dem Drahtseil birgt immense Gefahr.

Psychologische Unsicherheit entsteht immer dann, wenn wir uns in einer Wettbewerbs- oder Konkurrenzsituation behaupten müssen oder wenn für uns wichtige persönliche Beziehungen auf dem Spiel stehen.
Das erklärt, warum das agile Vorgehen innerhalb der Ministerpräsident:innenkonferenz an seine Grenzen kam. Zwischen politischen Kontrahent:innen wird sich in einem Wahljahr keine psychologische Sicherheit einstellen können. Bei der Diskussion über Lösungen, Fehler und Neubewertungen wird jede neue Idee als unzureichender Vorschlag, jedes Eingeständnis eines Fehlers als persönliches Versäumnis und jede Neubewertung als vorherige Fehleinschätzung auslegt werden. Ohne psychologische Sicherheit ist jedoch eine agile Lösungssuche für ein komplexes Problem wie die Corona-Pandemie unmöglich, da hierfür das unvoreingenommene Teilen von Ideen, Problemen und Fehlern nötig ist.
Psychologische Unsicherheit ist aber auch der Grund, warum wir im Umgang mit unseren Mitmenschen aktuell manchmal ins Schlingern geraten können. Wenn es noch keinen Konsens über neue Gepflogenheiten gibt, birgt jede Positionierung die potentielle Gefahr von Ablehnung oder persönlichem Angriff durch Menschen, denen wir uns verbunden fühlen.
In Zusammenhang mit psychologischer Unsicherheit müssen wir uns auch kritisch mit dem Thema Hierarchien auseinandersetzen. Die Währung innerhalb einer Hierarchie ist Wissen und Einfluss und das schürt den Wettbewerbs- und Konkurrenzgedanken. So ist eine hierarchische Struktur per se ungeeignet, um das Gefühl psychologischer Sicherheit zu entwickeln und in ihrer Folge die Lösung komplexer Probleme überhaupt erst zu ermöglichen. In Hierarchien geht ein nennenswerter Anteil der Aufmerksamkeit dadurch verloren, dass wir uns darüber Gedanken machen, was andere von uns denken und was das für unsere Position oder die Position, die wir zukünftig innerhalb der Hierarchie anstreben, bedeutet. Im Zweifelsfall ist es in Hierarchien einfacher, sich zurückzuhalten, statt das Risiko einzugehen, die Beziehung zu anderen und die eigene Position zu gefährden. Denn Hierarchien bergen die Gefahr eines Absturzes, wohingegen Netzwerke das Potential haben, Menschen sicher aufzufangen.
So ist eine hierarchische Struktur per se ungeeignet, um das Gefühl psychologischer Sicherheit zu entwickeln und in ihrer Folge die Lösung komplexer Probleme überhaupt erst zu ermöglichen.
Fassen wir nun zusammen, welche Lehren wir für agiles Arbeiten und unser gesellschaftliches Miteinander ziehen können:
- Psychologische Sicherheit ist für Teams in einem komplexen oder agilen Umfeld existentielle Voraussetzung, denn komplexe Problemlösung lebt vom Teilen von Ideen, Fehlern und Bedenken. Ohne psychologische Sicherheit ist agile Arbeit und Lösung komplexer Probleme im Team unmöglich. Psychologische Sicherheit im Team ist daher der entscheidende Erfolgsfaktor der Zukunft.
- Wettbewerbs- und Konkurrenzsituationen sowie Hierarchien erschüttern psychologische Sicherheit, denn sie schüren die Angst um die eigene Position. Kollaborative Spitzenleistung ist damit ausgeschlossen. Deshalb kommen wir nicht daran vorbei, hierarchische Strukturen zu überdenken, um innovatives Arbeiten auf höchstem Niveau zu ermöglichen.
- „Keine Organisation im 21. Jahrhundert kann sich eine Kultur der Angst leisten.“ (Edmonson, 2020). Gestalter:innen der Zukunft spinnen in ihren Teams daher bereits heute das Garn aus dem psychologische Sicherheit gewebt wird. Sie investieren in Vertrauensaufbau und agile Kultur und ermutigen Mitarbeitende den Drahtseilakt zu vollziehen, menschliche Risiken einzugehen und die wunderbare Erfahrung zu machen, dass dies gefahrlos möglich ist.
- Was für die Organisationen gilt, gilt auch für die Gesellschaft. Wir alle sind aufgefordert, ein Netz psychologischer Sicherheit zu spannen, um in der anstehenden Phase gemeinsam und im Guten einen Konsens über neue Gepflogenheiten zu erzielen. Wir brauchen die Offenheit, verschiedene Standpunkte zu hören, müssen es auch aushalten, dass Menschen, die uns lieb sind, manche Dinge anders sehen und bewerten. Wir alle sollten die Freiheit entwickeln, voneinander zu lernen und Meinungsbildung als dynamischen Prozess zu verstehen. Gestalter:innen der Zukunft denken daher aktuell nicht nur im Kontext der eigenen Arbeitsorganisation, sondern verstehen psychologische Sicherheit auch als Voraussetzung für die anstehenden gesellschaftliche Veränderungsprozesse.
Zum Weiterdenken: Mein Brückenbau in die Zukunft der Arbeit
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Wie sieht es mit Offenheit in meiner Organisation aus? Fühle ich mich sicher? Welchen Beitrag leiste ich dafür?
Wie sieht es mit Fehlertoleranz und Wertschätzung in meiner Organisation aus? Fühle ich mich sicher? Welchen Beitrag leiste ich dafür?
Quellen
Edmondson, A. (2019). The Fearless Organization: Creating Psychological Safety in the Workplace for Learning, Innovation, and Growth. John Wiley & Sons, Inc.
Edmondson, A. (2021). Den richtigen Ton setzen. Harvard Business manager Special 1/2021. Abgerufen 07.05.2021, von https://www.manager-magazin.de/harvard/fuehrung/leadership-professorin-amy-edmondson-ueber-zusammenarbeit-a-00000000-0002-0001-0000-000174106563
Stübig-Schimanski, P. (2016). Project Aristotle – Googles Weg zu mehr Teameffektivität. Online-Portal entwickler.de der Software & Support Media GmbH. Abgerufen 07.05.2021, von https://entwickler.de/online/agile/project-aristotle-google-teameffektivitaet-297598.html
Bildquellen: Alle Illustrationen aus diesem Blog stammen von Lena Bittrich und Carolin Meyer