Sinnbefüllung

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In den vergangenen Wochen tauchte wieder einmal eine neue Vokabel in der langen Liste der Pandemiewortschöpfungen auf: Corona-müde. Müde vom Lockdown und den eigenen vier Wänden, dem Abstandhalten, Maskentragen und den Kontaktbeschränkungen, dem täglichen Bericht über Inzidenzwerte, den Wirren um Teststrategien und Impfreihenfolgen, dem Homeschooling, den virtuellen Begegnungen unter Freund:innen und den endlosen Debatten über das richtige Vorgehen.

Um es mit Worten außerhalb des Pandemiejargons zu sagen: Corona-müde meint die Erschöpfung durch die Entbehrungen der vergangenen zwölf Monate gepaart mit der Erkenntnis, dass – trotz so lange aufrecht erhaltener Disziplin – noch kein klares Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist. Es ist ein bisschen so, als wenn man für einen Sprint gestartet ist – voller Kraft und Euphorie und bereit, alles zu geben – und erst mitten im Lauf erkennt, dass es sich um eine Langstrecke unbekannten Ausmaßes handelt. Wo soll die zusätzliche benötigte Kraft jetzt noch herkommen? Die Luft ist raus.

Erinnern wir uns, wie wir im Gegensatz dazu vor einem Jahr noch eine Art Auftrieb verspürten und bereitwillig diese merkwürdigen Regeln vom Social Distancing einübten. Dieser Begriff hat inzwischen sogar Eingang in das GABLER Wirtschaftslexikon gefunden: „Man hält untereinander Abstand, berührt möglichst wenig Gegenstände und Lebewesen, die andere berührt haben könnten, und vermeidet den Besuch von Veranstaltungen, Geschäften und (halb-)öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Bibliotheken und Restaurants.“ Anfangs beflügelte uns die Vorstellung, dass wir auf diese Weise unseren eigenen Beitrag leisten konnten. Wir alle wurden innerhalb weniger Tage zu ernannten Corona-Held:innen und Lebensretter:innen und wir nahmen die Einschränkungen hin, weil wir uns als wichtigen Teil einer großen Sache fühlten. Kinder malten Regenbögen an die Fenster, um sich beim neu erfundenen Spaziergang mit den Eltern gegenseitig zu signalisieren: Hier wohnt auch ein:e kleine:r Corona-Held:in und verzichtet auf das Spielen mit Anderen, um Leben zu retten. Gleich daneben proklamierten die Eltern mit den Lettern der Landeszeitung „Wir bleiben zu Hause“.

Doch nach einem Jahr ist von dem damaligen Auftrieb nicht mehr viel zu spüren. Routiniert, aber vermutlich mehr auf den Selbst- als auf den Fremdschutz bedacht, zücken wir unsere medizinischen Masken, sobald wir uns in der Öffentlichkeit bewegen. Wir beachten die Corona-Regeln (meistens), doch eher mit der Frage, nach dem, was erlaubt ist und weniger nach der Frage, was zum Zwecke der Pandemieeindämmung sinnvoll wäre. Unser Blick für das, um was es eigentlich geht, ist unscharf geworden und wir versuchen, als Einzelne:r und nicht mehr als große Gemeinschaft möglichst gut durch diese Sache zu kommen.

Doch warum ist das so? Wie wurde die Gesellschaft anfangs zu einer großen Gemeinschaft solidarischer Corona-Held:innen und was ist in der Zwischenzeit passiert, dass die Corona-Müdigkeit jetzt den Ton angibt? Es lohnt sich, die dahinterstehenden Dynamiken genauer zu betrachten, weil sie Schlussfolgerungen für andere große, fundamentale Umbrüche und Transformation erlauben.

Betrachten wir zunächst einmal, warum wir anfangs voller Energie bereit waren, viele bisherigen Gepflogenheiten des täglichen Lebens von heute auf morgen gegen unbequeme und ungewohnte neue Verhaltensweisen und Regeln einzutauschen.

Wie konnte eine Transformation dieses Ausmaßes in so kurzer Zeit gelingen?

Der Grund war: Wir wussten WARUM. Eine Infektion pandemischer Qualität, musste gestoppt werden, um Zigtausende Todesopfer zu vermeiden. Wem leuchtete das nicht ein? Alles, was nötig war, musste getan werden, das war keine Frage. Weil wir wussten warum, waren wir voller Energie und freuten uns, wenn wir den wahren Held:innen der Pandemie unsere Anerkennung zollen konnten, indem wir im Kleinen das taten, was möglich war. Es erfüllte uns mit Stolz, wenn sich die Gelegenheit bot, in dieser außergewöhnlichen Lage unsere Solidarität mit anderen zu bezeugen, indem wir kranken oder alten Nachbar:innen eine Kleinigkeit vom Einkaufen mitbrachten. Wir wünschten uns, mit unserem Tun Teil der großen Held:innengemeinschaft zu werden, und leisteten bereitwillig unseren Beitrag.

Die Logik, die diesem Phänomen zugrunde liegt, lässt sich mit dem Modell des Golden Circle (Sinek, 2009) erklären. Dieses Modell beschreibt die Kommunikationslogik inspirierender und visionärer Führungspersönlichkeiten und erklärt, wodurch unkonventionelle Ideen ihren Auftrieb bekommen. Das Modell besteht aus drei konzentrischen Kreisen, von denen jeder für eine der drei zeitlich und logisch aufeinander aufbauenden Fragen: WARUM? WIE? WAS? steht. Nach dem Modell des Golden Circle können innovative Botschaften dann zum Höhenflug werden, wenn sie von innen nach außen kommuniziert werden.

Die Kommunikation, die uns anfangs zu Corona-Held:innen werden ließ, folgte dieser Logik.

  • In der Mitte stand zunächst die Frage nach dem Warum. WARUM brauchen wir eine Transformation unseres Handelns? – Weil wir damit Zigtausend Leben retten können.
  • Daraus folgte die Frage: WIE können wir Leben retten? – Indem wir Ansteckung vermeiden
  • Daraus wiederum folgte die Frage: WAS müssen wir dafür tun? – Kontakte reduzieren.

Die Frage nach dem WARUM erklärte den Sinn und lieferte somit Erklärung, Motivation und Energie allen Handelns. WIE wir dieser Sache begegneten und WAS wir dafür tun mussten, ergab sich folgerichtig und war daher logische Konsequenz. So war das einmal im Frühjahr 2020. Was können wir aus der damals zumindest anfangs gelungenen Transformation innerhalb der Gesellschaft für die Transformationsprozesse innerhalb der Arbeitswelt lernen und welche Parallelen gibt es dabei vielleicht zu entdecken?

Wie wir gesehen haben, ist Transformation ein Prozess, der mit dem WARUM beginnt. Ist das WARUM verstanden, sind dramatische Veränderungen ungeahnten Ausmaßes möglich. Will ich als Unternehmen also beispielsweise eine digitale Transformation meiner ehemals analogen Geschäftsprozesse (WAS), mittels einer umfassenden, digitalen Lösung wie z.B. einem Enterprise-Ressource-Planning-System (WIE) erreichen, dann handelt es sich dabei um eine gewaltige und mitunter unbequeme Veränderung für alle Beteiligten. Viel wird dann diskutiert werden, welche Schwierigkeiten das macht, was zunächst mal geschehen müsste, bevor man selbst tätig werden kann und dass das doch ein ganz schön komplexes Unterfangen ist, das man erstmal in Ruhe durchdenken müsste.

Transformation ist ein Prozess, der mit dem WARUM beginnt. Ist das WARUM verstanden, sind dramatische Veränderungen ungeahnten Ausmaßes möglich. 

Wer mit dem WAS beginnt, darf sich deswegen auf jede Menge Widerstand, halbherzige Umsetzung und inkonsistente Lösungen gefasst machen. Mit dem WAS zu beginnen, ist der vergebliche Versuch, die Kommunikationslogik umzukehren und die Fragen zur Transformation in umgekehrter Reihenfolge zu durchlaufen. Wo jedoch soll die Energie für die (unbequeme) Transformation herkommen, wenn der dahinterstehende Sinn offenbleibt? Was soll der Sache Auftrieb verleihen?

Will ich im Ergebnis (WAS?) eine digitale Transformation meiner Geschäftsprozesse, dann muss ich zuerst die Frage nach dem WARUM beantworten. WARUM sollte ich ein Unternehmen, dessen analogen Prozesse jahrelang eingeübt und perfektioniert worden sind auf den Kopf stellen? WARUM ist das gut? WARUM sollten wir das tun? Wer hierauf keine überzeugende und verständliche Antwort geben kann und stattdessen mit allgemeinen Argumenten wie „Gewinnmaximierung“, „Qualitätsstandard“, „moderner Ansatz“ argumentiert, liefert Stoff für jede Menge Gegenargumente. Was hätte die Gesellschaft wohl gemacht, hätte die Regierung im März 2020 ohne Erklärung des WARUM einen neuen vorgeschriebenen Mindestabstand von anderthalb Metern verordnet? Das hätte vermutlich und zu Recht viel Widerspruch hervorgerufen.

Dieses überspitzte Beispiel zeigt aber genau die Schwierigkeit. Das WARUM zu erklären, war bei der Pandemie anfangs leicht. Das WARUM für Transformation im Unternehmen hingegen erscheint häufig schwieriger vermittelbar, weil es im vordergründig funktionierenden Tagesgeschäft weniger naheliegend erscheint. Zahlreiche Führungskräfte und Geschäftsführer:innen können das WAS und WIE in der Regel gut benennen, haben aber Schwierigkeiten, die Frage nach dem WARUM überzeugend zu beantworten (Sinek, 2009) Wer aber das WARUM nicht liefert, hat die wichtigste Botschaft weggelassen und die Energie für eine Transformation von Anfang an abgewürgt.

Und so reagieren Mitarbeiter:innen vielerorts transformations- und veränderungsmüde, weil ihnen das WARUM für das mühevolle WAS und WIE verschlossen bleibt. Veränderungen bleiben ohne Auftrieb, wenn sie nicht mit Sinn befüllt werden. Ohne Sinn verkommen Maßnahmen zum Selbstzweck, die Betroffenen verheddern sich in endlosen Debatten über die Schwierigkeiten und Nachteile und die Idee wird zum ergebnislosen, unbefriedigenden Dauerthema, das Kraft kostet und Reserven aufbraucht.

Dieses Phänomen trifft in gleicher Weise auch auf die Pandemie zu. Endlose Debatten über das richtige WIE und WAS strapazieren die Menschen und fördern die Corona-Müdigkeit. Zwar war die Kommunikationslogik anfangs überzeugend gewesen, das WARUM war vor dem WIE und WAS beantwortet worden. Doch in der Zwischenzeit hat der sinn- und energiestiftende Auftrieb an Kraft verloren, gleichwohl wir natürlich eigentlich alle wissen, dass es nach wie vor darum geht, Leben zu retten. Die Wichtigkeit unseres persönlichen Beitrags hat sich jedoch mehr und mehr aus unserem Bewusstsein verflüchtigt. Die große Sache, an der wir alle einst so tatkräftig mitgewirkt haben, verliert an Höhe. Die Luft ist raus, der Treibstoff aufgebraucht und die Idee, um die es einmal ging, droht abzustürzen. Statt aber den Sinn neu zu befeuern, diskutieren wir weiter über das WAS und WIE – über Inzidenzwerte und R-Wert sowie die geeigneten Mittel, diese zu beeinflussen.

Wer aber das WARUM nicht liefert, hat die wichtigste Botschaft weggelassen und die Energie für eine Transformation von Anfang an abgewürgt. 

Eine wichtige Erkenntnis, die wir aus dieser Entwicklung für Transformationsprozesse allgemein ziehen können, ist: Die Energie geht mit der Zeit verloren, wenn man die Frage nach dem WARUM nicht immer wieder stellt und den Sinn aller Maßnahmen nicht beständig wachhält. Je unbequemer das WAS und WIE, desto leichter gerät das WARUM aus dem Blick und so mehr fragt man sich, weshalb man sich das WAS und WIE überhaupt antut. 

Transformation gelingt also nur, wenn die sinnstiftende Energie durch die Frage nach dem Warum beständig erneuert wird und jede Handlung als unmittelbaren Beitrag zur Erfüllung dieses Sinns verstanden wird.

Fassen wir also abschließend noch einmal zusammen, wie Transformation gelingen kann:

  • Transformation erklärt sich von innen nach außen: WARUM? WIE? WAS? Der Sinn allein ist die treibende Kraft, nicht die Strategie oder die Maßnahmen.
  • Wer Transformation nachhaltig vollziehen will, muss die Frage nach dem WARUM immer wieder neu beantworten und erklären, wozu Dinge gemacht werden. Wer dies missachtet, der vergisst, welche Leistung Transformation den beteiligten Menschen abverlangt und wie schnell man den Sinn verlieren kann, wenn das WAS und WIE Mühe kostet. Haben wir den Sinn aber erst einmal verloren, sind wir wenig bereit, neue, unbekannte und unbequeme Wege zu gehen.

Nur wer weiß warum und wofür kann jenseits des Altbekannten und Bequemen neue Wege dauerhaft beschreiten. Transformation braucht die beständige Sinnbefüllung, wenn sie gelingen soll.

Zum Weiterdenken: Mein Brückenbau in die Zukunft der Arbeit

Wenn es bei uns in der Organisation um „Transformation“ geht, worüber reden wir meistens? WARUM, WIE oder WAS?

WARUM brauchen wir in meinem Unternehmen eine digitale Transformation? Warum eine Transformation der Arbeit?

Welchen Beitrag kann ich persönlich dazu leisten? 

Quellen

Gabler Wirtschaftslexikon (2021): Social Distancing. Abgerufen 19.04.2021, von: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/social-distancing-122331/version-375711

Sinek, S. (2009): Start with why. How great leaders inspire everyone to take action, Penguin Random House.

Bildquellen: Alle Illustrationen aus diesem Blog stammen von Lena Bittrich und Carolin Meyer