Whitebox Kommunikation

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Seit Wochen hält Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck den Rang des beliebtesten Politikers Deutschlands (FAZ, 2022). Und dass obwohl die aktuelle Politik eigentlich im krassen Widerspruch zu dem steht, wofür der Grünen-Politiker ursprünglich angetreten war: Statt vor allem die Klimapolitik voranzutreiben und Windräder zu bauen, ist er auf der Suche nach neuen Gaslieferanten und verhandelt dafür mit autokratischen Systemen, die mit diversen Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht werden. Dass Habeck durch diesen offensichtlichen Widerspruch keinen Schaden nimmt, sondern stattdessen auf Platz 1 der Beliebtheitsskala rückt, scheint erst einmal erstaunlich. Kommunikationsexpert:innen zufolge sei dieser Erfolg vor allem Habecks besonderem Kommunikationsstil zuzuschreiben, mit dem es ihm gelingt, die unverkennbaren Widersprüche erklärbar und nachvollziehbar zu machen (FAZ, 2022; NDR, 2022; n-tv, 2022; SPIEGEL, 2022; MERKUR, 2022; Welt, 2022). Demnach liefere Robert Habeck „eine neue Form politischer Ansprache, die es in dieser Form [..] noch nicht gab“. (FAZ, 2022) Grund für uns, hier einmal genauer hinzuschauen.
Denn nicht nur in der Politik müssen wir Widersprüche aushalten. Seit Wegfall der Homeofficepflicht pochen viele Unternehmen und Organisationen auf eine Rückkehr in die Präsenzarbeit mit Kernarbeitszeiten und Zeiterfassung. Das passt nicht gut zu der über Monate unter Beweis gestellten Selbstorganisationsfähigkeit der Mitarbeitenden. Auch die Umwälzungen auf den Weltmärkten lassen alte Selbstverständlichkeiten in sich zusammenfallen. Autos können nicht gebaut werden, weil kleinste Billigteile einfach nicht zu bekommen sind. Transformationsprozesse in unseren Unternehmen und Organisationen schaffen ebenfalls Widersprüche: Dinge, die vor kurzem noch als gut und richtig galten, passen plötzlich nicht mehr, weil sich das Bedingungsgefüge verändert hat. Zeiten wie diese, verlangen uns viel ab. Die Welt ist in Unordnung.
Die Widersprüche, die wir im Fachjargon Ambiguitäten nennen, haben dabei in der momentanen politischen und unternehmerischen Situation besonderes Gewicht. Das A von VUKA, die Ambiguitäten, sind der Knackpunkt aller Transformationsbemühungen.
Wir wollen hier die Frage stellen, was wir aus der neuartigen Kommunikationsstrategie Robert Habecks für die Kommunikation in unseren Unternehmen und Organisationen lernen können, um bestehende Widersprüche erklärbar, nachvollziehbar und anschlussfähig zu machen.
Zunächst wollen wir aber den Begriff „Widersprüche“ in den Gesamtkontext einordnen. Seit längerem erleben wir, dass viele Bereiche des Lebens und der Arbeit zunehmend undurchsichtig und wenig planbar sind. Für diesen Zustand haben wir in den letzten Jahren den Begriff der VUKA-Welt erfunden. Die Abkürzung steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. Die Widersprüche, die wir im Fachjargon Ambiguitäten nennen, haben dabei in der momentanen politischen und unternehmerischen Situation besonderes Gewicht. Das A von VUKA, die Ambiguitäten, sind der Knackpunkt aller Transformationsbemühungen.

Das A von VUKA, die Ambiguitäten oder auch Widersprüche, sind der Knackpunkt aller Transformationsbemühungen. Ambiguitätstoleranz bedeutet Menschen dazu zu befähigen, bestehende Widersprüche auszuhalten.

Gelingt es nicht, die Widersprüche – die Ambiguitäten – ausreichend zu erklären, gleicht die Transformationsidee einer Blackbox.
Gelingt es nicht, die Widersprüche – die Ambiguitäten – ausreichend zu erklären, gleicht die Transformationsidee einer Blackbox. Menschen bleiben dann verwirrt und frustriert zurück, können an Transformationsprozessen nicht teilhaben und werde diese vielleicht sogar torpedieren. Die Kommunikation gleicht dann einer Blackbox. Das A zu erklären und Menschen dazu zu befähigen, die bestehenden Widersprüche auszuhalten – also eine Ambiguitätstolerenz zu entwickeln – ist der Schlüssel, um im Transformationsprozess jede:n mitzunehmen und eine Spaltung in Gesellschaft und Unternehmen zu vermeiden.
Schauen wir daher also genau hin und stellen wir am Beispiel Robert Habecks heraus, wie wir mithilfe einer entsprechenden Kommunikationsstrategie Ambiguitätstoleranz erzeugen können.
Bei seinen Bemühungen, die Energielieferungen aus Russland durch Gas aus Katar zu ersetzen, sendete Habeck ein vielbeachtetes Selfie-Video (Habeck, 2022) aus der Wüste von Doha, dessen Botschaft lautete: „Hey Leute, ich kann schon verstehen, wenn Ihr das komisch findet. Ich finde das auch komisch, aber ich muss jetzt irgendwie das Beste draus machen aus der Lage, in die wir da durch den Angriffskrieg Russlands geraten sind.“ (SPIEGEL, 2022) Dieses Video ist ein gutes Beispiel für die Kommunikationsstrategie Habecks. DER SPIEGEL bescheinigt ihm in diesem Zusammenhang „eine Kommunikation wie ein Influencer“ (SPIEGEL, 2022). Aber wie genau funktioniert nun diese neuartige Kommunikation?

Whitebox Kommunikation heißt, laut zu denken und unterschiedliche Argumente transparent gegeneinander abzuwägen
Habeck zeigt, dass er auf der Suche nach der richtigen Position ist. Er spricht nicht deklaratorisch, sondern selbstkritisch. (FAZ, 2022) Er macht seinen eigenen Entscheidungsprozess also zu einer Whitebox, indem er laut denkt und unterschiedliche Argumente transparent und für jeden sichtbar gegeneinander abwägt. Dabei macht er deutlich, dass die Frage nach dem richtigen Weg nicht eindeutig ist. Er demonstriert also einen Prozess der Abwägung und stellt seine eigene Zerrissenheit über die bestehenden Ambiguitäten demonstrativ und ohne Beschönigung dar. Er macht klar, dass es selbstverständlich Spannung und Bauchschmerzen erzeugt, wenn Dinge, die nicht gut zusammenpassen, nebeneinanderstehen. Ambiguitäten verursachen Schmerzen; Habeck erlaubt sich und den Menschen, diese Schmerzen zu spüren und beim Namen zu nennen.
Ein weiteres Merkmal Habecks Kommunikation besteht in der Nahbarkeit und seiner Kommunikation auf Augenhöhe. Mit seinem YouTube-Video und seiner transparenten Kommunikation bezieht er die Bürger:innen bereits in den Abwägungsprozess mit ein und schafft damit die Basis dafür, dass Menschen ihm folgen können, dass sie die politischen Entscheidungen, die aus diesem Abwägungsprozess folgern, mittragen und mitgehen können.
Dabei streitet Habeck in seiner Ansprache nicht ab, dass Dinge schwierig und widersprüchlich sind, lässt gleichzeitig aber keinen Zweifel daran, dass er die Menschen für fähig genug hält, in einem schwierigen Abwägungsprozess trotz Bauchschmerzen, die „richtigen Entscheidungen“ für die Zukunft mitgehen zu können. Reflexionsfähigkeit und Kompetenz sind das, was Habeck den Menschen in seiner Art zu kommunizieren stets zugesteht und unterstellt – mit offensichtlichem Erfolg.
Whitebox Kommunikation heißt, laut zu denken und unterschiedliche Argumente transparent und für jeden sichtbar gegeneinander abzuwägen und die eigene Zerrissenheit über die bestehenden Ambiguitäten demonstrativ und ohne Beschönigung darzustellen.
Können wir daraus eine neue Kommunikationsform, - eine Whitebox Kommunikation - auch für unsere Unternehmen und Organisationen ableiten?
Wir wollen hier einmal den Versuch starten und mögliche Grundsätze einer solchen, neugearteten, internen Unternehmenskommunikation skizzieren:
- Wir erkennen an, dass sich die Welt transformiert. Daraus resultieren Widersprüche und Ambiguitäten – auch in unseren Organisationen. Gestalter:innen der Zukunft wollen darüber in neuer, geeigneter Weise kommunizieren.
- Führungskräfte gehen mit gutem Beispiel voran. Sie äußern klar und unmissverständlich, welche Widersprüche sie erleben. Sie versetzen sich in die Erfahrungslage der Mitarbeitenden und spiegeln deren Zweifel, Einwände und Bedenken wider.
- Führungskräfte wiederum vertrauen auf die Reflektionsfähigkeit ihrer Mitarbeitenden. Sie nehmen alle Zweifel, Einwände und Bedenken der Mitarbeitenden ernst und schenken ihnen Gehör. Es ist jederzeit erlaubt und willkommen, Irritationen über Ambiguitäten zu äußern.
- Es gibt nicht (mehr) den einen „richtigen Weg“. Viele Entscheidungen sind mit Zugeständnissen teils schmerzhafter Art an anderer Stelle verbunden. Führungskräfte und Mitarbeitende dürfen und sollen diese Zerrissenheit explizit äußern und ihr Raum geben.
- Führungskräfte der Zukunft glauben an die Kompetenz ihrer Mitarbeitenden, Widersprüche aushalten und trotz alledem handlungsfähig bleiben zu können. Sie wägen sorgsam ab, um den besten und tragfähigsten Weg in die Zukunft zu finden. Dafür nehmen sie sich Zeit. Der ausführliche Diskurs hat Vorrang vor vorschnellen Entscheidungen.
Führungskräfte und Mitarbeitende dürfen und sollen diese Zerrissenheit explizit äußern und ihr Raum geben. Der ausführliche Diskurs hat Vorrang vor vorschnellen Entscheidungen.
Fassen wir zusammen:
- Wir befinden uns in einer sich transformierenden Lebens- und Arbeitswelt. Das zeigt sich aktuell in zahlreichen Widersprüchen, die wir im Fachjargon Ambiguitäten nennen. Diese machen Angst, verunsichern und führen dazu, dass Menschen den Weg in eine neue Zukunft verweigern. Daher brauchen wir eine Erneuerung unserer politischen, gesellschaftlichen und unternehmerischen Kommunikation, eine Whitebox Kommunikation, die Widersprüche erklärbar, nachvollziehbar und anschlussfähig macht.
- Zweifel, Bedenken und Einwände der Menschen müssen Gehör finden. Whitebox Kommunikation heißt, die Menschen in ihrer Reflektionsfähigkeit ernst zu nehmen und ihnen in einer kompetenzunterstellenden Haltung gegenüberzutreten.
- Gleichzeitig müssen Führungskräfte den Anspruch fallen lassen, den einen „richtigen Weg“ zu kennen. Stattdessen sollten sie lebendiges Beispiel einer Whitebox Kommunikation werden, und zeigen, wie innere Zerrissenheit zum Ausdruck gebracht werden kann. Dafür ist es notwendig, in aller Offenheit laut zu denken, Abwägungsprozesse transparent zu machen und zu demonstrieren, dass Ambiguitätstoleranz heißt, Widersprüche – trotz aller Schmerzen – in Kauf zu nehmen, um handlungsfähig zu bleiben.
- Die disruptiven Effekte der aktuellen Krisen befördern den Transformationsdruck. Es ist jetzt dringend an der Zeit, eine neuartige Whitebox Kommunikation für unsere Unternehmen und Organisationen festzuschreiben. Transformation gelingt nur, wenn Menschen die transformative Unordnung aushalten. Eine Whitebox Kommunikation nimmt die Menschen mit, schafft Toleranz gegenüber Ambiguitäten und verhindert eine drohende Spaltung in Unternehmen und Gesellschaft. Daher sollten wir als Gestalter:innen der Zukunft ab sofort die Empfindungen der Menschen, die Schmerzen über Widersprüche und das intensive Ringen um den aktuell bestmöglichen Weg in den Mittelpunkt aller Transformationsbemühungen stellen.
Zum Weiterdenken: Mein Brückenbau in die Zukunft der Arbeit
Welche Ambiguitäten erlebe ich in meiner Organisation?
Inwieweit adressiere ich diese Ambiguitäten transparent und auf Augenhöhe an meine Kolleg:innen und/oder Mitarbeiter:innen?
Inwieweit vertraue ich auf die Kompetenzen und Reflexionsfähigkeit meiner Kolleg:innen und/oder Mitarbeiter:innen?
Quellen
FAZ (2022). Der Diskurs wird zum zentralen Wert. Abgerufen, 16.6.2022, von https://zeitung.faz.net/faz/medien/2022-04-16/8c1905365f96a6a7585904d0369c684c/?GEPC=s5
Merkur.de (2022). Rhetorisch haushoch überlegen? Habeck verblüfft mit neuem Stil – und lässt Scholz blass aussehen. Abgerufen 16. Juni 2022, von https://www.merkur.de/politik/gruene-robert-habeck-news-olaf-scholz-kommunikation-vize-kanzler-ukraine-91563347.html
n-tv (2022). Neue Ära der Kommunikation. Habeck, der YouTube-Star im Wirtschaftsministerium. Abgerufen 16. Juni 2022, von https://www.n-tv.de/politik/Habeck-der-Youtube-Star-im-Wirtschaftsministerium-article23240624.html
Robert Habeck (2022). Selfie-Video des Ministers. Bundesminister Habeck in Katar. Abgerufen 16. Juni 2022, von https://www.youtube.com/watch?v=D7zvJ30aQnI
SPIEGEL (2022). Wie Robert Habeck kommuniziert. Abgerufen 16. Juni 2022, von https://www.spiegel.de/politik/deutschland/robert-habecks-kommunikation-wie-ein-influencer-auf-reisen-a-306e8212-f841-4234-9671-79238a5ce0cd
Welt (2022). Robert Habeck und die neue Art, zum Volk zu sprechen. Abgerufen 16.6.2022, von https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus238455149/Regierungskommunikation-Robert-Habeck-und-die-neue-Art-der-Kommunikation.html
Bildquellen: Alle Illustrationen aus diesem Blog stammen von Lena Bittrich und Carolin Meyer