Wie konnte das passieren?

Lesedauer: ca. 10 Minuten

„Wie konnte das denn passieren?“, mag sich so manch eine:r mit Blick in den Spiegel gefragt haben, als er / sie nach so langer Zeit endlich wieder den Koffer für den Sommerurlaub packte und feststellen musste, dass die Badehose etwas eingelaufen schien und die Wanderhose plötzlich ein wenig kniff und drückte (Apotheken-Umschau 06/2021).

„Wie konnte das denn passieren?“, fragen wir uns auch mit Blick in die Nachrichten, die aktuell von zahlreichen Krisen ganz anderer Dimension berichten: Eine schwere Flutkatastrophe mit Zerstörungen nie dagewesenen Ausmaßes in Deutschland, verheerende Waldbrände im Süden Europas, desaströse Entwicklungen in Afghanistan und eine immer noch mangelnde Impfquote.

„Wie konnte das denn passieren?“, fragen sich aktuell auch viele Unternehmer:innen, die den zunehmenden Transformationsdruck zwar spüren, aber gleichzeitig nicht so recht wissen, wie das Aufbrechen alter Strukturen und die Gestaltung der Zukunft eigentlich gelingen kann.

„Wie konnte das denn passieren?“, ist der überraschte Ausruf, wenn uns eine Krise plötzlich bewusst wird. In diesem Moment bricht die alte Wirklichkeit zusammen und neue Lösungen sind noch nicht gefunden. Häufig treffen uns Krisen unvermutet. Das wirkt vor dem Hintergrund unseres heutigen Selbstverständnis als Wissensgesellschaft etwas verwunderlich, wo wir doch zu jeder Zeit nahezu unbegrenzten Zugang zu Wissen und Informationen haben.

Diesem Widerspruch wollen wir auf die Spur gehen: Warum kommt es trotz unseres riesigen Potentials an Wissensvernetzung und Informationen überhaupt zu Krisen und warum sind wir noch nicht mitten drin in den großen Transformationsaufgaben? Warum ziehen wir aus unserem Wissen scheinbar nicht die notwendigen Schlüsse und kommen nicht ins Tun und Handeln?

Bei einer Krise bricht die alte Wirklichkeit zusammen und neue Lösungen sind noch nicht gefunden. 

Auf diese komplexen Fragen können wir hier keine ganz abschließenden Antworten geben. Was wir aber tun wollen, ist zu beleuchten, wie die Verkettung von Wissen, Verstehen und Handeln gestaltet werden muss, damit Krisen rechtzeitig erkannt und antizipiert werden und Transformationsprozesse ins Rollen kommen.

Allen Krisen – ob den Großen oder Kleinen – ist gemein, dass die Entscheidungsträger:innen zwar um Ursache und Wirkung wissen, aber die Bedeutsamkeit und Dringlichkeit der vorliegenden Information offenbar nicht ausreichend verstehen und daher nicht oder falsch handeln.

Wir wissen, dass ungesunde Ernährung, mangelnde Bewegung und Stress zu Übergewicht führen können. Wir wissen, dass es den Klimawandel gibt. Wir wissen, dass ein Strukturwandel notwendig ist, um zukunftsfähig zu sein. Wissen und Informationen allein scheinen aber nichts zu nützen, solange die Konsequenzen unseres Nicht-Handelns und das Ausmaß der damit verbundenen Folgen nicht in unsere Vorstellungskraft dringen. Der Bestsellerautor Roger Willemsen fasst dieses Phänomen mit folgenden Worten zusammen „Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis.“ (Willemsen, 2016)

Wissen und Informationen allein scheinen aber nichts zu nützen, solange die Konsequenzen unseres Nicht-Handelns und das Ausmaß der damit verbundenen Folgen nicht in unsere Vorstellungskraft dringen. 

Das hat dramatische Auswirkungen. Denn wer zwar die Fakten kennt, aber die Bedeutsamkeit und Dringlichkeit dieser Fakten nicht versteht, kommt nicht ins Handeln.
Die Transformationswissenschaftlerin Maja Göpel beschreibt eben dieses Phänomen: Solange ein Problem nicht ins Bewusstsein der Menschheit vorgedrungen ist, bestimmt es noch nicht ihr Handeln (vgl. Göpel, 2020, S. 161). Wir stellen also weder unsere Ernährung nachhaltig um, noch verhalten wir uns in letzter Konsequenz klimafreundlich, noch gehen wir den Strukturwandel in den Unternehmen beherzt an bis, ja bis wir die negativen Auswirkungen wirklich spüren. Offensichtlich verstehen wir die Dringlichkeit eines Problems und den daraus resultierenden Handlungsbedarf in vielen Fällen also erst durch tatsächlich gemachte Erfahrung.

Aber dürfen wir uns als Wissensgesellschaft damit zufriedengeben? Müssen wir wirklich erst immer alles am eigenen Leib erfahren, damit wir Veränderungen angehen? Es muss doch im Zeitalter unbegrenzten Wissenszugangs möglich sein, Krisen so zu antizipieren, dass wir in unserer Vorstellungskraft bereits das erkennen, was wir sonst erst schmerzhaft erfahren würden.

Das hat sich auch John Kotter, Professor für Veränderungsmanagement an der Harvard Business School, gedacht. Er sieht das Bewusstsein für die Dringlichkeit eines Problems als Voraussetzung dafür, dass Menschen Transformationsprozesse starten und somit eine drohende Krise vermeiden (Kotter & Rathgeber, 2017). Dafür hat er folgende Lösung entwickelt:

Es muss doch im Zeitalter unbegrenzten Wissenszugangs möglich sein, Krisen so zu antizipieren, dass wir in unserer Vorstellungskraft bereits das erkennen, was wir sonst erst schmerzhaft erfahren würden. 

Um die Dringlichkeit eines Problems ins Bewusstsein zu rücken, braucht es zwei Aspekte:

  1. Das Krisenszenario konsequent zu Ende denken: Zunächst ist die hypothetische Frage zu stellen: Was passiert, wenn wir nichts tun? Was genau sind die Konsequenzen, wie genau sieht das Szenario dann aus? Und können wir dieses Szenario verantworten? Kotter ergänzt, dass es dabei nicht entscheidend ist, dass das Wissen um ein Problem bereits vollständig und in allen Einzelheiten vorliegt. Denn eigentlich können wir ja nie mit Sicherheit vorhersagen, dass ein hypothetisches Szenario genauso kommen wird, wie wir es uns vorstellen. Aber allein die Option, dass es vielleicht so oder ähnlich kommen könnte, sollte Grund genug sein, jetzt auf jeden Fall zu handeln, um eine potentielle Krise abzuwenden.

Was passiert, wenn wir nichts tun? Antizipation eines Problems bedeutet, sich das drohende Krisenszenario im Kopf vorzustellen, noch bevor es tatsächlich eintritt.

2. Die Dringlichkeit des Handelns durch Beweise glaubhaft machen: Trotz aller Fakten und Informationen brauchen Menschen sichtbare Beweise, dass ein Problem besteht, noch bevor es sich zur echten Krise entwickelt. Zu wissen, dass das Eis an den Polen schmilzt, ist nicht das gleiche wie mit Gummistiefeln bis zu den Knien in einem Bach voll Schmelzwasser zu stehen. Zu wissen, dass es wohl Kund:innen geben soll, die zukünftig digitale Vertriebskanäle wünschen, ist nicht das gleiche, als von einem aufgebrachten Kunden mitten ins Gesicht gesagt zu bekommen: „Euer analoges Geschäftsmodell ist tot!“ Zu wissen, dass eine digitale Infrastruktur existentiell für die virtuelle Zusammenarbeit ist, ist nicht das gleiche, als tatsächlich im Homeoffice zu sitzen und an der wichtigen Videokonferenz wieder einmal nicht teilnehmen zu können, weil die Datenleitung es einfach nicht hergibt. Die haptische, emotionale und sichtbare Erfahrung beflügelt unsere Vorstellungskraft und schafft das Bewusstsein, dass das Problem real ist und eine Krise ohne beherzte Gegenmaßnahmen unabwendbar sein wird.

Warum werden wir scheitern? Die Dringlichkeit des Handelns wird deutlich, wenn wir unseren Blick bewusst auf die Schwachstellen unseres Systems lenken.

Und wie müssen wir nun konkret agieren, um zukünftig Krisen zu vermeiden und Transformationsprozesse ins Rollen zu bringen?

  1. Das Krisenszenario konsequent zu Ende denken: Zu Beginn jedes Transformationsprozess fragen wir also: Was passiert, wenn wir nichts tun? Bei der Beantwortung dieser Frage müssen wir mutig sein und uns trauen, das Szenario eines potentiellen Scheiterns in unserer Vorstellung zuzulassen. Anders als in einer Welt, in der wir es vor allem gewohnt sind, durch Erfolge zu glänzen, ist es zu Beginn von Transformationsprozessen hilfreich, den Blick auf das zu lenken, was schief gehen könnte,- auf die Missstände, Versäumnisse, Fehler und Lücken und auf das, was unseren Erfolg bedroht. Zweckoptimismus ist fehl am Platze. Es ist keine Schwarzmalerei und kein Pessimismus, sich das Desaströse eines Nicht-Handels im Detail auszumalen. Was wir am Anfang eines Transformationsprozesses brauchen, ist also vor allem Ehrlichkeit über Bedrohungen, über Ängste und Sorgen, über dramatische Kettenreaktionen und das Gefühl des freien Falls. Das mag uns ungewohnt vorkommen. Aber wir brauchen genau diese Ehrlichkeit, um die Dringlichkeit für unser Handeln bewusst zu machen. Neben dieser Ehrlichkeit brauchen wir Widerstandskraft gegen diejenigen, die diese Schreckensmeldungen vehement nicht hören wollen und den aktuellen Zustand schönreden. Stellen wir uns also den Transformationsverweiger:innen entgegen, indem wir sagen: Natürlich weiß ich nicht hundertprozentig, dass es genauso kommen wird. Ich weiß nicht, wie schnell und wie tief wir tatsächlich fallen, aber dass wir fallen, wenn wir so weitermachen und nichts unternehmen, das weiß ich hundertprozentig. Und dass es schnell und tief genug ist, sodass wir jetzt unbedingt ins Handeln kommen müssen, das steht außer Frage.
  2. Die Dringlichkeit des Handelns durch Beweise glaubhaft machen: Transformation braucht zu Beginn auch die persönliche Konfrontation mit all dem, was im Status quo nicht funktioniert. Das setzt voraus, explizit nach dem Schlechten Ausschau zu halten und dieses beim Namen zu nennen. Wir müssen den Finger in die Wunde legen und bohren und suchen nach Gründen, weswegen wir mit unserem aktuellen Verhalten, mit unserem aktuellen Geschäftsmodell scheitern könnten. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, bestehende Probleme sichtbar werden zu lassen, indem wir aufhören, alles und jedes doch noch in letzter Sekunde irgendwie möglich zu machen. Vermeidung und Vertuschung von Fehlern ist so, als wenn ich Beweismaterial für ein Problem verschwinden lasse. Hören wir damit auf. Suchen wir stattdessen explizit Beweismaterial für unser potentielles Scheitern. Fragen wir unsere Kund:innen und Mitarbeiter:innen nach dem, was nicht läuft, was zu Verärgerung und Verdruss führt. Warum glaubst Du, dass wir mit unserer Geschäftsidee oder mit unserer Art der Zusammenarbeit scheitern werden? Zeig mir die Lücken und Probleme, je mehr desto besser. Sag es mir, denn ich muss es wissen, um zukunftssicher zu werden.

Was passiert, wenn wir nichts tun? Bei der Beantwortung dieser Frage müssen wir mutig sein und uns trauen, das Szenario eines potentiellen Scheiterns in unserer Vorstellung zuzulassen. 

Transformation braucht auch die persönliche Konfrontation mit all dem, was im Status quo nicht funktioniert. Warum glaubst Du, dass wir scheitern werden? 

Fassen wir zusammen, was wir für Transformationsprozesse insgesamt ableiten können:

  •  Gestalter:innen der Zukunft entscheiden sich dafür, Probleme zu antizipieren und ins Handeln zu kommen, bevor ein Problem zu einer Krise anwächst. Sie wundern sich daher nicht erst im Nachhinein: „Wie konnte das passieren?“, sondern fragen proaktiv: „Was passiert, wenn wir nicht handeln?“
  • In den Unternehmen und der Gesellschaft stehen große Transformationsaufgaben an. Wir sollten daher jetzt die eigene Komfortzone verlassen und denen Gehör schenken, die beständig auf das weisen, was uns gefährlich werden könnte, und dabei nicht müde werden, uns die Dringlichkeit unseres Handelns vor Augen zu führen.
  • Zu Warnen und zu Mahnen ist jedoch eine undankbare Aufgabe. Wer sich ihrer annimmt, verdient unseren uneingeschränkten Respekt und unsere Anerkennung sowie den Schutz vor den Unbelehrbaren, den Leugner:innen, Transformationsgegner:innen und denjenigen, die sich mit aller Macht einer neuen Wirklichkeit verschließen. Geduldig die Dringlichkeit unseres Handelns immer und immer wieder beim Namen zu nennen, ist das Heldentum der Gegenwart.
  • Wir gestalten Zukunft im Angesicht großer Krisen. Das nachträgliche Triumphieren darüber, dass man mit seinen Warnungen Recht hatte, ist fehl am Platze. Bescheidenheit über die eigene Weitsicht zeichnet Gestalter:innen der Zukunft ebenso aus, wie das Bewusstsein, dass Transformation – so nötig sie auch sein mag – den Menschen einen tiefgreifenden Wandel im Denken und Handeln abverlangt und deswegen als eine großartige Leistung herauszustellen ist.
  • Wir müssen ins Handeln kommen. Pessimismus und das Schüren von Angst, dass Transformation Einschränkungen und Entbehrungen mit sich bringen könnte, behindern den innovativen Prozess. Daher zählen nicht nur diejenigen, die die Dringlichkeit eines Problems erkennen, zu den Gestalter:innen der Zukunft, sondern auch all jene, die Transformation mit Kopf, Herz und Hand vollziehen.

Gestalter:innen der Zukunft wundern sich daher nicht erst im Nachhinein: „Wie konnte das passieren?“, sondern fragen proaktiv: „Was passiert, wenn wir nicht handeln?“  Dabei zählen nicht nur diejenigen, die die Dringlichkeit eines Problems erkennen zu den Gestalter:innen der Zukunft, sondern auch all jene, die Transformation mit Kopf, Herz und Hand vollziehen.

Gestalter:innen der Zukunft vollziehen Transformation, indem sie ins Handeln kommen und das System auf Basis der Erkenntnisse konsequent umbauen. 

Zum Weiterdenken: Mein Brückenbau in die Zukunft der Arbeit

Welche drohenden Krisen sehe ich in meinem Bereich / in meiner Organisation?

Wie sieht das Krisenszenario konkret aus? Was passiert, wenn wir so weitermachen und nicht ins Handeln kommen?

Anhand welcher Beispiele und Beweise kann ich die Dringlichkeit unseres sofortigen Handelns deutlich machen?

Quellen

Göpel, M. (2020). Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH.

Kotter, J. & Rathgeber, H. (2017). Das Pinguin-Prinzip. Wie Veränderung zum Erfolg führt. München: Droemer Verlag.

Mayer-Halm, A. (2021). Warum die Corona-Krise dick macht. Apotheken Umschau 06/2021, Abgerufen 17.9.2021, von https://www.apotheken-umschau.de/gesund-bleiben/ernaehrung/warum-die-corona-krise-dick-macht-753659.html

Willemsen, R. (2021). Wer wir waren (10. Auflage). Frankfurt am Main: Fischer Verlag GmbH.

Bildquellen: Alle Illustrationen aus diesem Blog stammen von Lena Bittrich und Carolin Meyer