Zwiebelbilanz

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Ein Jahr leben und arbeiten wir jetzt bereits im Corona bedingten Ausnahmezustand. Damals – im März 2020 – überschlugen sich plötzlich die Ereignisse und mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Faszination fanden wir uns völlig unvermittelt von heute auf morgen beim Arbeiten am heimischen Küchentisch wieder. Darauf waren wir zunächst nicht vorbereitet und so brauchten wir ein paar Tage, um uns in dieser ungewohnten Situation zurecht zu finden. Doch dann erfuhren wir einen echten, innovativen Schub und entdeckten die neue Welt der virtuellen Zusammenarbeit. Insbesondere Videokonferenzen gaben uns neue Möglichkeiten zur Interaktion mit unseren Kolleg:innen und Kund:innen und so rüsteten wir eifrig unsere heimischen Arbeitsplätze mit Headsets und Webcams auf. Anfangs erforderte die neue Technik unsere ganze Aufmerksamkeit und Konzentration, weil die meisten von uns damit echtes Neuland betraten. Aber sehr schnell gehörten Microsoft Teams, Zoom, Skype und viele andere Tools zu unserem neuen Standardrepertoire. Wir alle machten die Erfahrung, dass vieles geht, wenn man muss und so überraschten wir uns selbst mit unserer Flexibilität und Lernfähigkeit, die es uns ermöglichte, innerhalb weniger Tage eine echte Zeitenwende zu vollziehen. Ohne jegliche Vorbereitung hatten wir ad hoc auf virtuelle Zusammenarbeit umgestellt. Die Pandemie als Turbobeschleuniger der Digitalisierung, wer hätte das gedacht.

Ein Jahr später befinden wir uns nun – nach einem kurzen Aufatmen im Sommer – erneut im Lockdown. In der Zwischenzeit haben wir massive Veränderungen unseres Lebens- und Arbeitsalltags erfahren. Wir haben Homeoffice und virtuelle Zusammenarbeit mit all ihren Sonnen- und Schattenseiten kennengelernt und jede:r für sich hat ganz persönliche Herausforderungen mit dieser Krise bestehen müssen. Daher starten wir das zweite Jahr – wieder oder immer noch mit dem Laptop auf dem heimischen Küchentisch – mit einem veränderten Erfahrungshorizont und neuen Erwartungen.

Das ist Grund genug, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Was haben die hinter uns liegenden Monate mit unserer Art des Arbeitens, Denkens und Interagierens gemacht und was bedeutet das für die Zukunft? Wo stehen wir aktuell und in welche Richtung bewegen wir uns? Hat die Corona-Pandemie für die Arbeitswelt eine unumkehrbare Zeitenwende eingeläutet, also einen Trend ins Rollen gebracht, der sich unweigerlich fortsetzen wird, auch wenn die Verhältnisse sich irgendwann wieder in Richtung alter Normalität bewegen sollten? Oder arbeiten wir aktuell lediglich mit einem Behelfskonstrukt, das wir schleunigst wieder ablegen, sollte dies irgendwann einmal wieder möglich sein?

Hat die Corona-Pandemie für die Arbeitswelt eine unumkehrbare Zeitenwende eingeläutet oder ist die aktuelle, virtuelle Zusammenarbeit lediglich ein vorübergehendes Behelfskonstrukt? 

Auch nach einem Jahr noch beschert uns die virtuelle Zusammenarbeit die typischen, tragisch-komischen oder gar verzweifelten Momente: Kinder, die in Videokonferenzen hineinplatzen, Verbindungen, die immer wieder abbrechen, der dauer-stummgeschaltete Kollege, bei dem heute die Handwerker sind, die Kollegin, die mitten in ihrem Bericht unterbrochen wird vom Klingeln an der Haustür und dann minutenlang nicht mehr auftaucht, der „eingefrorene“ Kollege und die Kollegin, von deren Beitrag leider nur Wortfetzen zu verstehen sind. Das alles strengt an. Dennoch, dank der Digitalisierung konnten wir vor nunmehr einem Jahr unsere Kommunikation mit Kolleg:innen und Kund:innen fast nahtlos fortsetzen.

Wie hat nun diese neue Form der Zusammenarbeit unsere Beziehungen zu unseren Kolleg:innen verändert? Der Blick durch die Webcam direkt in die privaten Wohnungen hat uns dichter an das Leben der Anderen herangezoomt – paradoxer Weise trotz der räumlichen Entfernung mehr noch als in der echten Begegnung im Büro. Und das legere Homeoffice-Outfit macht die sonst so adrett gestylten Kolleg:innen plötzlich viel nahbarer. So hatten wir manchmal den Eindruck, uns trotz der Distanz plötzlich auf andere Weise besser kennengelernt zu haben als bislang. Der Blick in das häusliche Leben verschafft eine überraschende Vertrautheit, und lässt die professionelle Fassade auf angenehme Art und Weise auf das authentisch Menschliche zurückschrumpfen. Dennoch spüren wir alle, wie frustrierend es auf Dauer ist, den Kolleg:innen nicht real begegnen zu können. Und auch die virtuelle Weihnachtsfeier und der virtuelle Workshop fühlen sich trotz aller kreativer Ideen nicht wie im realen Kontakt an. Warum ist das so?

Hierfür müssen wir uns zunächst ein wenig mit den Grundsätzen von Veränderungsprozessen beschäftigen. Veränderungen vollziehen sich auf unterschiedlichen Ebenen und können entsprechend der betroffenen Ebenen tiefgreifende oder weniger tiefgreifende Konsequenzen mit sich bringen. Dies lässt sich sehr gut an dem Modell einer Blumenzwiebel erklären, die in mehreren Schichten aufgebaut ist und deren äußere Schichten die später heranwachsenden Laubblätter und die Blüte umschließen. Wie eine Blumenzwiebel bestehen auch Veränderungsprozessen aus unterschiedlichen Schichten (Krüger, 1994). Je tiefer man dringt, desto tiefgreifender ist das Ausmaß der Veränderung. Die entscheidende Frage ist also, wie tiefgreifend die Veränderung unserer Arbeit durch die Umstellung auf virtuelle Zusammenarbeit ist.

Die entscheidende Frage ist, wie tiefgreifend die Veränderung unserer Arbeitszwiebel durch die Umstellung auf virtuelle Zusammenarbeit ist.

Um diese Frage zu beantworten, stellen wir uns unsere Arbeit also einmal als Blumenzwiebel vor. Die äußere Schicht steht dabei für die verwendeten Tools, Systeme und Prozesse, die nächsttiefere Schicht für das Verhalten und die Fähigkeiten der Mitarbeiter:innen, die dritte Schicht für die Strategie und den Führungsstil und die vierte Schicht für Werte und Überzeugungen. Im Kern der Blumenzwiebel, also dort, wo die Laubblätter und die Blüte angelegt sind, findet sich schließlich die Identität unserer Arbeit und unserer Organisation (Krüger, 1994).

Ziehen wir nun also einmal Bilanz und bewerten, wie tiefgreifend die Veränderung an unserer Arbeitszwiebel durch virtuelle Zusammenarbeit ist. Wir sehen, dass virtuelle Zusammenarbeit für sich allein betrachtet zunächst lediglich die beiden äußeren Schichten verändert: Wir haben die Tools, Systeme und Prozesse (unfreiwillig) digitalisiert und infolgedessen in den vergangen zwölf Monaten eindrücklich unter Beweis gestellt, wie lern- und anpassungsfähig wir unsere Fähigkeiten entsprechen ausgebaut und unser Verhalten an die Situation angepasst haben. Damit ist uns die Übersetzungsleistung zweifelsohne geglückt. Die allermeisten Organisationen haben aber weder ihre Strategie noch den Führungsstil noch die grundsätzlichen Werte und Überzeugungen verändert und erleben sich im Kern noch als die gleiche Organisation wie vor der Corona-Pandemie. Das jedoch ist keine Transformation, das ist lediglich Translation.

Virtuelle Zusammenarbeit allein ist lediglich eine vorübergehende Translation unserer Tools und Fähigkeiten in eine virtuelle Welt, aber keinesfalls die vielbeschworene digitale Transformation der Arbeit.

Unsere Zwiebelbilanz erklärt also den seltsam schrägen Gesamteindruck der Situation. Wir funktionieren und behelfen uns mit virtueller Zusammenarbeit, aber virtuelle Zusammenarbeit ist nicht Teil der Organisationsidentität und es fehlt aus diesem Grund auch an den dazugehörigen Werten und Überzeugungen. Deswegen gibt es auch keine Strategie und keine Mitarbeiterführung, die dies unterstützen würde. Bislang haben wir tatsächlich lediglich eine Übersetzungsleistung unserer Kommunikationskanäle erbracht und alles andere unverändert gelassen. Wie bei jeder Übersetzung ist jedoch die Sprach- und Tonqualität im Original besser. Virtuelle Zusammenarbeit funktioniert – ja – aber in der jetzigen Form scheint es nicht mehr zu sein als eine Zwischenlösung. Unsere aktuelle Zusammenarbeit ist lediglich eine vorübergehende Translation unserer Tools und Fähigkeiten in eine virtuelle Welt, aber keinesfalls die vielbeschworene digitale Transformation der Arbeit.

Inkonsistenz der Arbeitszwiebel durch Translation

Wir haben nur an der alleräußersten Schicht gekratzt, ohne die dazugehörigen nötigen Veränderungen auch im Innern zu vollziehen. So agieren derzeit viele Organisationen unfreiwillig in einem virtuellen Umfeld, ohne dass sie ihre Identität, Strategie und Führungskultur dem angepasst hätten. Auch wenn wir – Führungskräfte genauso wie Mitarbeiter:innen –  in unserem Homeoffice-Outfit alle ein bisschen nach Vertreter:innen der New Work Economy aussehen, werden wir dadurch im Innern noch lange nicht agil und ist der Geist von New Work nicht entzündet. So bleibt die Arbeitssituation vielerorts paradox, weil virtuelle Zusammenarbeit mit einer auf Präsenskultur ausgerichteten Organisationsführung kollidiert.  Die Mitarbeiter:innen sind dabei die Leidtragenden und reiben in dem Widerspruch zwischen den äußeren Wirklichkeiten und den inneren Zuständen auf.

Wie aber kann eine Lösung aussehen? Wie kann die innere Transformation gelingen, um die inneren Zustände an die äußeren Realitäten anzupassen?

Für echte Transformation ist es notwendig, die Identität unserer Organisation, der Führungskräfte und der Mitarbeiter:innen und die damit verbundenen Werte und Überzeugungen im Lichte der virtuellen Zusammenarbeit neu zu bewerten und gegebenenfalls sogar neu zu erfinden. Das ist ein schmaler Grat, die Brücke in die neue Arbeitswelt zu schaffen und gleichzeitig authentisch zu bleiben.

Ob eine Organisation diesen Sprung von der Translation zur Transformation wagt, hängt von der individuellen Betrachtung und Bewertung der aktuellen Situation durch die Entscheidungsträger:innen ab:

  • Glaube ich, dass wir in Kürze in das alte Normal zurückkehren werden? Und deswegen den Mitarbeiter:innen zuzumuten ist, im Moment vorübergehend in Widersprüchen zu arbeiten?

  • Oder glaube ich, dass die Zeit reif ist, ein neues Normal zu erfinden, das uns – selbst wenn Corona irgendwann besiegt sein sollte, eine andere, bessere Arbeitssituation als vor der Pandemie beschert?

Transformation ist nicht die Veränderung an der Oberfläche, sondern in der Tiefe. Transformation kann zwar bei den technischen Rahmenbedingungen beginnen, aber hört damit nicht auf. Es ist vielmehr eine Neuerfindung der Organisation im Kern, denn es bedeutet eine grundlegende Umwandlung und Neuordnung der Beziehungen zwischen der Organisation und den Kund:innen, zwischen den Führungskräften und den Mitarbeiter:innen, zwischen den einzelnen Mitarbeiter:innen und zwischen der Arbeit und dem Leben im Allgemeinen. Welche Identität wird dann zukünftig im Innern unserer Zwiebel liegen? Wer werden wir sein?

Transformation ist nicht die Veränderung an der Oberfläche, sondern in der Tiefe. Es ist eine Neuerfindung der Organisation im Kern. Welche Identität wird zukünftig im Innern unserer Zwiebel liegen? Wer werden wir sein?

Wir haben jetzt die Chance uns aktiv für einen Wandel der Arbeit einzusetzen und neu festzulegen, was gute Arbeit ausmacht. Wir können jetzt neu beschließen, wer wir zukünftig sein wollen, woran wir glauben und wie wir arbeiten wollen. Wir haben jetzt die Chance, Führungsgrundsätze und Wertvorstellungen an veränderte Bedingungen anzupassen. Wir haben jetzt die Chance, Aspekte, die immer schon belastend waren, über Bord zu werfen und dafür positive Veränderungen aus dem vergangenen Jahr als neuen Standard zu etablieren.

Es ist jetzt die Zeit, das ganz große Rad zu drehen und Gestalter:innen der Arbeit von morgen zu sein.

Es ist jetzt die Zeit, neue Zwiebeln für die Arbeit der Zukunft zu setzen.

Gestalter:innen der Zukunft setzen jetzt Arbeitszwiebeln für morgen

Zum Weiterdenken: Mein Brückenbau in die Zukunft der Arbeit

Wie sieht die Zwiebelbilanz meiner Organisation aktuell aus? Haben wir die Transformation der Arbeit bereits begonnen oder stecken wir noch in der Translation fest?

Welche Zwiebelbilanz wünsche ich mir für meine Organisation in 2021? 

Welchen Beitrag kann ich dazu leisten? 

Quellen

Krüger, W. (1994): Transformations-Management. Grundlagen, Strategien, Anforderungen, in: v. Gomez, P. et al. (Hrsg.): Unternehmerischer Wandel, Wiesbaden: Gabler Verlag / Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH,  S. 199 – 228

Bildquellen: Alle Illustrationen aus diesem Blog stammen von Lena Bittrich und Carolin Meyer